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Verhandeln, während die Welt brennt

LONDON – Die 2010er Jahre könnten als das Jahrzehnt in Erinnerung bleiben, in dem der Kampf gegen den schädlichen Klimawandel verloren wurde. 2015, bei der COP21-Klimakonferenz in Paris, einigten sich 196 Länder darauf, die globale Erwärmung auf deutlich weniger als 2°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Aber die weltweiten Treibhausgasemissionen stiegen danach weiter: Die atmosphärischen Konzentrationen von Kohlendioxid sind auf dem höchsten Niveau seit 800.000 Jahren, und bei der aktuellen Politik wird es bis 2100 wahrscheinlich zu einer Erwärmung von etwa 3°C kommen. Darüber hinaus sind die jüngsten COP25-Verhandlungen in Madrid gescheitert, weil die Regierungen über den Wert und die Zuweisung von „Kohlenstoffzertifikaten“ stritten, die noch aus einer überkommenen früheren Politikperiode stammen.

Gleichzeitig sind in den 2010er Jahren enorme technische Fortschritte gemacht worden. Heute können die Treibhausgasemissionen viel kostengünstiger verringert werden, als wir es noch ein Jahrzehnt vorher für möglich gehalten haben. Der Preis für Solar- und Windkraft ist um über 80% bzw. 70% gefallen, und die Kosten für Lithium-Ionen-Batterien gingen von 1.000 Dollar pro Kilowattstunde im Jahr 2010 auf aktuell 160 Dollar zurück. Aufgrund dieser und weiterer Durchbrüche können nun Energiesysteme, die zu bis zu 85% auf variablen erneuerbaren Energien beruhen, kohlenstofffreien Strom zu einem Preis erzeugen, der gegenüber fossilen Systemen völlig konkurrenzfähig ist.

Außerdem ist heute klar, dass sogar die „schwerer anpassbaren“ Sektoren wie die Schwerindustrie (darunter Stahl, Zement- und chemische Industrie) und der Langstreckentransport (wie Schiffs-, Flug- und Lastwagenverkehr) zu einem Preis entkarbonisiert werden können, der für einzelne Unternehmen zwar erheblich ist, aber kaum Einfluss auf den Lebensstandard der Menschen hat.

Im Mai 2019 schätzte das britische Klimawandelkomitee, eine kohlenstofffreie britische Wirtschaft bis 2050 werde das BIP jährlich um nicht mehr als 1-2% verringern. Noch 2008 prognostizierte dasselbe Komitee, das ich damals leitete, zu ähnlichen Kosten könne nur eine 80%ige Verringerung der Emissionen erreicht werden.

Angesichts der geringeren Entkarbonisierungskosten und des wachsenden Bewusstseins der Klimagefahren wird es immer deutlicher, dass es möglich und notwendig ist, bis 2050 kein Kohlendioxid mehr zu emittieren. Im Juli verpflichtete sich Großbritannien gesetzlich bindend dazu, dieses Ziel zu erreichen, und Anfang dieses Monats einigte sich auch die Europäische Union darauf. Darüber hinaus verpflichten sich auch immer mehr führende Unternehmen, bis 2050 oder bereits vorher kohlenstofffrei zu arbeiten, darunter der weltgrößte Containerschifffahrtskonzern Maersk, der schwedische Stahlproduzent SSAB und der indische Zementverarbeiter Dalmia.

Wollen wir das Pariser Klimaziel erreichen, müssen alle Industriestaaten bis etwa Mitte des Jahrhunderts kohlenstofffrei werden, und dazu ist nur eine minimale Belastung des Lebensstandards erforderlich. Und diesen Bemühungen muss sich auch China anschließen.

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Heute versucht das Reich der Mitte, bei den Verhandlungen auf Klimawandelkonferenzen als „Entwicklungsland“ aufzutreten, da sein aktuelles Pro-Kopf-BIP (kaufkraftbereinigt) nur etwa 18.000 Dollar oder etwa 40% des EU-Durchschnitts beträgt. Aber die chinesische Regierung will ihr Land bis 2050 zu einer „vollständig entwickelten reichen Volkswirtschaft“ machen – mit einem höheren Pro-Kopf-BIP als jedes europäische Land heute. Und angesichts der Qualität der chinesischen Belegschaft, Infrastruktur und Unternehmensführung sowie der immer stärkeren technologischen Führungsposition des Landes in vielen Sektoren ist dieses Ziel absolut erreichbar.

Daher ist es entscheidend, wie schnell China seine Emissionen verringern kann. Das Land ist momentan für fast 30% der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich, und seine Pro-Kopf-Emissionen werden den (abnehmenden) Wert Europas wahrscheinlich innerhalb von wenigen Jahren übersteigen. Reduziert China also seine Emissionen bis 2050 nicht dramatisch, wird der Unterschied, ob Europa seine nun um 80% oder um 100% reduziert, die globale Erwärmung nur minimal beeinflussen.

China sollte sich zum Ziel setzen, bis 2050 nicht nur eine vollständig entwickelte, sondern auch eine kohlenstofffreie Volkswirtschaft zu sein. Um dies zu erreichen, sind natürlich enorme Investitionen nötig. Die Stromproduktion, die gebraucht wird, um den chinesischen Lebensstandard zu steigern und den Transport, die Gebäudeheizungen und die Industrie zu versorgen, könnte von heute 6.700 Terawatt auf 14-15.000 TWh bis 2050 steigen. Dies erfordert eine Verdreifachung der jährlichen Investitionen in Wind- und Solarenergie, um die Kapazität der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050 – gemeinsam mit 230 Gigawatt aus Atomkraft – auf fast 5.000 Gigawatt zu steigern.

Aber wie ein aktueller Bericht der Energiewendekommission betont, müssten die chinesischen Investitionen für eine solche enorme Kapazitätssteigerung und zusätzliche Ausgaben für Übertragung, Verteilung und Speicherung von Energie insgesamt nur um weniger als 1% des BIP erhöht werden – und dies in einem Land, das über 40% seines BIP spart und investiert. Darüber hinaus würde sich diese Entwicklung auf Chinas BIP im Jahr 2050 – und damit auch auf den Lebensstandard der Konsumenten – ebenfalls nur um minimale 1% auswirken. Und dieser Wert könnte noch viel geringer sein, da eine Verpflichtung auf Kohlenstofffreiheit den technologischen Fortschritt stimulieren und die Produktivität steigern könnte.

Nach dem Scheitern in Madrid wird sich die Aufmerksamkeit nun auf die COP26-Konferenz des nächsten Jahres in Glasgow richten. Auch dieses Treffen könnte in fruchtlosen Diskussionen steckenbleiben, bei denen die Klimadiplomaten über kleinliche Kompromisse bei der so genannten „Lastenverteilung“ streiten. Statt dessen müssen sich die Regierungen auf die enormen möglichen Vorteile einer kohlenstofffreien Weltwirtschaft konzentrieren.

Daher sollten sich die Industriestaaten gemeinsam mit einem sich schnell entwickelnden China unilateral dazu verpflichten, bis 2050 Nullemissionen zu erreichen – im Vertrauen darauf, dass die Kosten für ihre Volkswirtschaften sehr niedrig sein werden. Die Entwicklungsländer sollten sich wiederum darauf einigen, dieses Ziel ein Jahrzehnt später zu erreichen – im Vertrauen darauf, dass der technologische Fortschritt im Zuge der Emissionsverringerung der Industriestaaten die Kosten der Dekarbonisierung mit der Zeit verringern wird.

Und zusätzlich müssen sich sowohl Industrie- als auch Entwicklungsländer auf die wichtige globale Frage konzentrieren, die die Internationale Energieagentur in ihrem jüngsten World Energy Outlook in den Vordergrund rückt: Wie können in den Ländern mit geringem Einkommen massive Investitionen in erneuerbare Energien ausgelöst werden? Dies trifft besonders auf Afrika zu, den Kontinent mit den weltweit größten Solarressourcen, der aber momentan nur 1% der globalen photovoltaischen Kapazität nutzt.

Kann die COP26 im nächsten Jahr diese großen Möglichkeiten und Herausforderungen erfolgreich angehen, könnten die 2020er das erste Jahrzehnt werden, in dem wir den Kampf gegen den Klimawandel gewinnen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/nkWSF0Ade