skidelsky151_Chip SomodevillaGetty Images_washingtondcflowersnaturecoronavirus Chip Somodevilla/Getty Images

Wird uns COVID-19 wieder in Einklang mit der Natur bringen?

LONDON – Eines der wenigen Dinge, an denen im Zeitalter von COVID-19 keine Knappheit herrscht, sind Kommentare zur Pandemie. Verständlicherweise erzeugte das Virus einen unaufhörlichen Fluss an Nachrichten über seine Verbreitung, an Anweisungen, wie man es vermeidet und überlebt, an Analysen zu Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten sowie Vermutungen über seine Auswirkungen auf Arbeitsgewohnheiten, psychische Gesundheit, Wirtschaft, Geopolitik und vieles mehr.

Ich habe meine Zeit der Isolation zuhause für die folgenden Überlegungen genutzt, die ich dem Chor der Expertenstimmen in gebotener Bescheidenheit hinzufüge.

Zunächst habe ich Klaus Mühlhahns Buch Making China Modern gelesen. In der chinesischen Kosmologie, so Mühlhahn, war die Welt des Menschen untrennbar mit der Welt der Natur verbunden. „Wurde die richtige Ordnung eingehalten, nahm die Natur ihren ruhigen Lauf und die Welt der Menschen florierte“, schreibt Mühlhahn. „Wurde diese Ordnung jedoch nicht respektiert, konnte es sein, dass es zu abnormalen oder zerstörerischen Ereignissen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Finsternissen oder sogar Epidemien kommt.“  

Inwiefern könnte nun COVID-19 das Ergebnis der Nichteinhaltung der „richtigen Ordnung“ sein? In der chinesischen Denkweise geht es bei dieser richtigen Ordnung um angemessene Regeln und dazu gehört die Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäßen Beziehung zwischen der Welt des Menschen und der Natur. Eine Pandemie ist ein Hinweis darauf, dass unsere Art zu leben, gegen diese Beziehung verstoßen hat.  

Die Gesundheitsexpertin Alanna Shaikh ist der Ansicht, dass es zweifellos noch viel mehr Epidemien geben wird und zwar „aufgrund der Art und Weise, wie wir als menschliche Wesen mit unserem Planeten interagieren”. Dazu zählt nicht nur die vom Menschen verursachte globale Erwärmung, die ein günstigeres Umfeld für Krankheitserreger schafft, sondern auch unser Vorstoß bis in die letzten Wildgebiete der Welt.

„Wenn wir den Amazonas-Regenwald abbrennen und beackern […], wenn das letzte Buschland in Afrika landwirtschaftlichen Betrieben weichen muss, wenn Wildtiere in China bis zur Ausrottung gejagt werden, kommen Menschen mit Wildtierpopulationen in Kontakt, wie das nie zuvor der Fall war”, so Shaikh.

Subscribe to PS Digital
PS_Digital_1333x1000_Intro-Offer1

Subscribe to PS Digital

Access every new PS commentary, our entire On Point suite of subscriber-exclusive content – including Longer Reads, Insider Interviews, Big Picture/Big Question, and Say More – and the full PS archive.

Subscribe Now

Dazu zählen immer engere Begegnungen mit Fledermäusen und Schuppentieren, die beide als potenzieller Ursprung von COVID-19 gelten. Solange wir die Autonomie der Natur nicht respektieren, wird die Natur zurückschlagen.

Aus diesem Gedankengang können entweder weitreichende oder enger gefasste Schlussfolgerungen gezogen werden. Shaikh zieht einen engeren Schluss daraus, vielleicht, weil der weiter gefasste für die meisten Menschen zu unerquicklich ist. Sie meint, wir müssten ein weltweites Gesundheitssystem aufbauen, das es den Ländern ermöglicht, rasch auf Epidemien zu reagieren und so zu verhindern, dass daraus Pandemien werden. Jedes Land sollte in der Lage sein, infizierte Bürger unmittelbar zu identifizieren, zu isolieren und zu behandeln.

Ich denke, eine Möglichkeit, das zu erreichen, besteht darin, dass die Regierungen der G7 globale COVID-19-Anleihen begeben, wobei die Einkünfte einer reformierten Weltgesundheitsorganisation zufließen, die über das konkrete Mandat verfügt, die medizinischen Kapazitäten aller Länder auf das Niveau in den Industrieländern anzuheben. (Wobei sich auch das Niveau der Industrieländer im Fall von COVID-19 als unzureichend herausgestellt hat.) Diese Ausgaben der WHO sollten zusätzlich zu den Entwicklungsausgaben der Weltbank erfolgen.

Shaikh bringt ein weiteres überaus vernünftiges Argument vor. „Bedarfsgesteuerte Just-in-time-Bestellsysteme sind großartig, solange alles funktioniert, aber in Krisenzeiten läuft es darauf hinaus, dass wir über keine Reserven verfügen.“ Wenn also einem Krankenhaus oder einem Land die medizinischen Schutzausrüstungen ausgehen, müssen diese erst bei einem Lieferanten (oftmals in China) bestellt werden. Anschließend gilt es zu warten, bis die Produkte hergestellt und versendet werden.  

Diese Kritik erstreckt sich nicht nur auf den Bereich der Beschaffung im medizinischen Bereich, sondern weit darüber hinaus; sie stellt das vorherrschende Just-in-Time-Dogma infrage. Reserven, so lautet das Argument, kosten Geld. Effiziente Märkte erfordern von den Unternehmen keine Vorräte, sondern gerade so viele „Lagerbestände“ wie notwendig, um die Verbraucher zum Zeitpunkt der Nachfrage zufriedenzustellen.  

Finanzielle Reserven für schlechte Zeiten sind dieser Ansicht nach reine Verschwendung, weil es in effizienten Märkten keine schlechten Zeiten gibt. Die Unternehmen sollen also bis zum Anschlag fremdfinanziert sein.

Das geht so lange gut, wie keine unvorhergesehenen Ereignisse eintreten. Wenn es allerdings zu einem „Schock” wie den Finanzcrash des Jahres 2008 kommt, bricht das Modell des effizienten Marktes zusammen und mit ihm auch die Wirtschaft. Etwas Ähnliches passiert derzeit mit unserer medizinischen Versorgung.

Daraus folgt, dass „Just in Time” durch „Just in Case” ersetzt werden muss. Idealerweise sollte eine globale Behörde eine strategische Reserve an medizinischen Versorgungsgütern vorhalten, um im Falle definierter Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit die Versorgung über einen begrenzten Zeitraum (von beispielsweise drei Monaten) aufrechterhalten zu können. Finanziert werden sollte diese Reserve durch Steuern, die von den nationalen Regierungen im Verhältnis zum jeweiligen Nationaleinkommen ihres Landes erhoben werden. Eine solche Bevorratung kann aber auch national oder regional erfolgen: die Europäische Union wäre etwa ein idealer Ausgangspunkt.

Nichts davon berührt jedoch die weitaus weitreichendere Frage nach der richtigen Beziehung zwischen Mensch und Natur. In einem Vortrag aus dem Jahr 2014 zählte der Wissenschaftsjournalist Stephen Petranek acht Arten von Ereignissen auf, die der Welt, wie wir sie kennen, ein Ende bereiten könnten: Pandemien, Sonneneruptionen, schwere Erdbeben, Vulkanausbrüche, biologische Unfälle, Treibhauseffekte, Atomkrieg und ein Zusammenstoß mit einem Himmelskörper. Vier davon sind „Naturkatastrophen” – also verheerende Ereignisse, die nicht als Folge unseres Lebensstils eintreten.  Doch die anderen vier -  Pandemien, biologische Unfälle, Atomkrieg und globale Erwärmung - würden sich direkt aus der Art und Weise ergeben, wie Menschen mit der Natur interagieren.

Das COVID-19-Virus, so beängstigend es jetzt auch erscheinen mag, könnte sich schließlich als so mild und kontrollierbar herausstellen, dass es uns nicht aus unseren Gewohnheiten reißt. Tatsächlich ist der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman der Meinung, dass „der Widerwille des Menschen, seinen Lebensstil zu senken, mit keinem noch so hohen Grad an psychologischem Bewusstsein zu überwinden ist.“

Wir wären allerdings unklug, würden wir uns weiterhin auf technische Lösungen verlassen, um uns aus dem Abgrund zu befreien, in den wir aufgrund unseres verschwenderischen Lebensstils gestürzt sind, denn früher oder später werden uns die medizinischen Lösungen für das Problem der „richtigen Ordnung“ ausgehen. Vielmehr sollten wir unseren erzwungenen Stillstand nutzen, um darüber nachzudenken, welche Lösungen tatsächlich funktionieren würden.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/jEIOykide