MOSKAU – 1949 trugen fünf der größten lebenden Schriftsteller der Welt – André Gide, Richard Wright, Ignazio Silone, Stephen Spender und Arthur Koestler – sowie der amerikanische Auslandskorrespondent Louis Fischer Essays zu einer Sammlung mit dem Titel The God That Failed („Ein Gott, der keiner war“) bei, in denen sie ihren Weg zum und ihre Abkehr vom Kommunismus reflektierten. Liz Cheney – eine der prominentesten republikanischen Kritikerinnen von Donald Trump, die gerade in den Vorwahlen ihrer Partei eine krachende Niederlage erlitten und somit keine Möglichkeit mehr hat, ihren Sitz im US-Repräsentantenhaus im November zu verteidigen – kann möglicherweise Parallelen entdecken.
Das zwanzigste Jahrhundert war die Hochphase des ideologischen Engagements und der politischen Desillusionierung. Die kommunistische Sache schien vielen Menschen, insbesondere literarischen Intellektuellen, ein Weg zu persönlicher Erfüllung und sozialer Gerechtigkeit, ja sogar eine Art Erlösung zu sein. Als Gide, Koestler und die anderen ihre Desillusionierung zu Papier brachten, lag dieser Glaube endgültig hinter ihnen. Aber sie wussten, dass der Bann des Kommunismus für viele – insbesondere ihre intellektuellen Kollegen – noch nicht gebrochen war.
Es bedurfte erst der sowjetischen Unterdrückung des ungarischen Volksaufstandes von 1956, um den neunmalklugen Jean-Paul Sartre dazu zu bringen, seine Überzeugung in Frage zu stellen, dass die Sowjetunion wegweisend für die Zukunft der Menschheit sein würde. George Bernard Shaw, mit seinem Faible für schockierende Äußerungen, hat niemals Zweifel am sowjetischen Experiment geäußert, egal wie viele Tote es gab.
Shaws Loyalität war so unerschütterlich, dass meine eigene Urgroßmutter Nina, zeitlebens Bolschewikin, davon Kenntnis nahm. Bei der Arbeit an einer Biografie über Nikita Chruschtschow, meinen Urgroßvater, erfuhr ich, dass Nina, nachdem sie Shaw 1931 in Moskau kennengelernt hatte, unsterblich in ihn verliebt war und seinetwegen sogar Englisch lesen lernte. Shaw, so betonte sie, war den meisten Westlern und vielen Sowjets überlegen, weil er seine revolutionären Überzeugungen nie verriet.
Für diejenigen, die einen solchen „Verrat“ begingen, war eines so gut wie sicher: Sie würden den Glauben an den Kommunismus ebenso entschieden ablehnen wie sie ihn angenommen hatten. So inbrünstig sie ihren säkularen Gott auch verehrt hatten, sie würden noch inbrünstiger daran arbeiten, der Gefahr entgegenzutreten, die er für die Welt darstellte. In Büchern und Vorträgen verurteilten sie die Sowjetunion als ein übles Experiment, das das unvermeidliche Resultat einer arroganten Idee war.
Sie mögen ihre Stimme durchaus erhoben haben, um die Welt zu schützen. Doch sie dürften auch sich selbst geschützt haben. Kommunistische Abtrünnige waren verzweifelt – und sogar, wie im Fall von Silone, beschämt – über ihre anfängliche Investition in einen Gott, den sie später als falsch erkannten. Also leisteten sie Wiedergutmachung, bisweilen in einem übersteigertem Maß.
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Politische und ideologische Desillusionierung scheint heute in den Vereinigten Staaten einen ähnlichen oppositionellen Eifer auszulösen, wofür Liz Cheney ein gutes Beispiel ist. Cheney war drei Amtszeiten lang Wyomings einzige Abgeordnete im Repräsentantenhaus und hat jedes Mal eine große Mehrheit errungen. Doch dieses Mal haben ihr die Wähler in Wyoming eine herbe Niederlage beigebracht.
Der Grund dafür ist so einfach wie unbestreitbar: Cheney weigerte sich, vor Trump und seiner großen Lüge – The Big Lie –, die Präsidentschaftswahlen 2020 seien „gestohlen“ worden, einen Kotau zu machen. Cheney verurteilt seit langem den „Personenkult“ um Donald Trump, der sich in der republikanischen Partei hartnäckig festgesetzt hat, und hat dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses über die Rolle von Trump und seinen Verbündeten bei der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 angehört.
Die Wähler in Wyoming sind jedoch nach wie vor von Trump begeistert. Also wählten sie Cheneys von Trump unterstützte Gegnerin Harriet Hageman, eine glühende Verfechterin der Big Lie und der meisten anderen Verschwörungstheorien, die die Trump-Welt hervorgebracht hat.
Doch Cheney ist noch nicht am Ende. Sie hat die Gründung eines Political Action Committee angekündigt, einer privaten politischen Organisation, die sich darauf konzentrieren soll, Bedrohungen für die Demokratie aufzuzeigen und sich allen Bemühungen Trumps um eine zweite Amtszeit als Präsident zu widersetzen. Sie erwägt sogar, 2024 selbst für das Präsidentenamt zu kandidieren – ein Schritt, von dem viele annehmen, dass er zwar nicht zum Sieg führen würde, aber dazu beitragen könnte, Trump vom Weißen Haus fernzuhalten.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Cheney ist gegen Trump, nicht gegen republikanischen Konservatismus an sich. In politischen Fragen stimmte sie in 93% der Fälle mit ihrer Partei – und Trump – überein. Sie lehnte Trump und seinen „Personenkult“ erst ab, nachdem sie erkannt hatte, dass er eine tödliche Bedrohung für die amerikanische Demokratie und für die Republikanische Partei darstellt, die ihre Familie repräsentiert.
Das ist schon eine Ironie der Geschichte, wenn man bedenkt, dass die Regierung von Präsident George W. Bush – in der ihr Vater, Dick Cheney, als Vizepräsident diente – alles andere als ein Leuchtturm der Demokratie war. Tatsächlich wäre Trumps Präsidentschaft wahrscheinlich nicht möglich gewesen ohne die Regel- und Normbrüche, die unter Cheneys Aufsicht stattfanden. Und obwohl Cheney selbst sich 2015 gegen Trumps Nominierung hätte aussprechen können, tat er es nicht. In einem privaten Gespräch sagte er mir, dass er Trump unterstützen würde, einfach weil er der Kandidat der Republikanischen Partei sei. Seine Tochter folgte dann der gleichen Logik. Später hörte ich, dass er diese Entscheidung bereute – zu spät für ihn, seine Tochter und für Amerika.
In jedem Fall gehören die alten Mythen über den amerikanischen Westen mit seinen angeblich geradlinigen, ehrlichen Menschen oder über die praktischen und pragmatischen Bewohner des Mittleren Westens und die warmherzigen und gemeinschaftsorientierten Bewohner der im Südosten der USA gelegenen Bundesstaaten ad acta gelegt. Sechs Jahre nach der Trump-Revolution entscheidet sich eine Mehrheit der Republikaner in diesen Regionen für Verschwörungstheorien statt für die Wahrheit, für Stammesloyalität statt für das Land und für falsche Götter statt für Demokratie. Als die Wähler in Wyoming Gelegenheit bekamen, zwischen einer Gefolgsfrau von Trumps großer Lüge und einer Tochter der Cowboy-Aristokratie auszuwählen, entschieden sie sich für den psychopathischen Gott, der keiner war.
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In the United States and Europe, immigration tends to divide people into opposing camps: those who claim that newcomers undermine economic opportunity and security for locals, and those who argue that welcoming migrants and refugees is a moral and economic imperative. How should one make sense of a debate that is often based on motivated reasoning, with emotion and underlying biases affecting the selection and interpretation of evidence?
To maintain its position as a global rule-maker and avoid becoming a rule-taker, the United States must use the coming year to promote clarity and confidence in the digital-asset market. The US faces three potential paths to maintaining its competitive edge in crypto: regulation, legislation, and designation.
urges policymakers to take decisive action and set new rules for the industry in 2024.
The World Trade Organization’s most recent ministerial conference concluded with a few positive outcomes demonstrating that meaningful change is possible, though there were some disappointments. A successful agenda of reforms will require more members – particularly emerging markets and developing economies – to take the lead.
writes that meaningful change will come only when members other than the US help steer the organization.
MOSKAU – 1949 trugen fünf der größten lebenden Schriftsteller der Welt – André Gide, Richard Wright, Ignazio Silone, Stephen Spender und Arthur Koestler – sowie der amerikanische Auslandskorrespondent Louis Fischer Essays zu einer Sammlung mit dem Titel The God That Failed („Ein Gott, der keiner war“) bei, in denen sie ihren Weg zum und ihre Abkehr vom Kommunismus reflektierten. Liz Cheney – eine der prominentesten republikanischen Kritikerinnen von Donald Trump, die gerade in den Vorwahlen ihrer Partei eine krachende Niederlage erlitten und somit keine Möglichkeit mehr hat, ihren Sitz im US-Repräsentantenhaus im November zu verteidigen – kann möglicherweise Parallelen entdecken.
Das zwanzigste Jahrhundert war die Hochphase des ideologischen Engagements und der politischen Desillusionierung. Die kommunistische Sache schien vielen Menschen, insbesondere literarischen Intellektuellen, ein Weg zu persönlicher Erfüllung und sozialer Gerechtigkeit, ja sogar eine Art Erlösung zu sein. Als Gide, Koestler und die anderen ihre Desillusionierung zu Papier brachten, lag dieser Glaube endgültig hinter ihnen. Aber sie wussten, dass der Bann des Kommunismus für viele – insbesondere ihre intellektuellen Kollegen – noch nicht gebrochen war.
Es bedurfte erst der sowjetischen Unterdrückung des ungarischen Volksaufstandes von 1956, um den neunmalklugen Jean-Paul Sartre dazu zu bringen, seine Überzeugung in Frage zu stellen, dass die Sowjetunion wegweisend für die Zukunft der Menschheit sein würde. George Bernard Shaw, mit seinem Faible für schockierende Äußerungen, hat niemals Zweifel am sowjetischen Experiment geäußert, egal wie viele Tote es gab.
Shaws Loyalität war so unerschütterlich, dass meine eigene Urgroßmutter Nina, zeitlebens Bolschewikin, davon Kenntnis nahm. Bei der Arbeit an einer Biografie über Nikita Chruschtschow, meinen Urgroßvater, erfuhr ich, dass Nina, nachdem sie Shaw 1931 in Moskau kennengelernt hatte, unsterblich in ihn verliebt war und seinetwegen sogar Englisch lesen lernte. Shaw, so betonte sie, war den meisten Westlern und vielen Sowjets überlegen, weil er seine revolutionären Überzeugungen nie verriet.
Für diejenigen, die einen solchen „Verrat“ begingen, war eines so gut wie sicher: Sie würden den Glauben an den Kommunismus ebenso entschieden ablehnen wie sie ihn angenommen hatten. So inbrünstig sie ihren säkularen Gott auch verehrt hatten, sie würden noch inbrünstiger daran arbeiten, der Gefahr entgegenzutreten, die er für die Welt darstellte. In Büchern und Vorträgen verurteilten sie die Sowjetunion als ein übles Experiment, das das unvermeidliche Resultat einer arroganten Idee war.
Sie mögen ihre Stimme durchaus erhoben haben, um die Welt zu schützen. Doch sie dürften auch sich selbst geschützt haben. Kommunistische Abtrünnige waren verzweifelt – und sogar, wie im Fall von Silone, beschämt – über ihre anfängliche Investition in einen Gott, den sie später als falsch erkannten. Also leisteten sie Wiedergutmachung, bisweilen in einem übersteigertem Maß.
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Der Grund dafür ist so einfach wie unbestreitbar: Cheney weigerte sich, vor Trump und seiner großen Lüge – The Big Lie –, die Präsidentschaftswahlen 2020 seien „gestohlen“ worden, einen Kotau zu machen. Cheney verurteilt seit langem den „Personenkult“ um Donald Trump, der sich in der republikanischen Partei hartnäckig festgesetzt hat, und hat dem Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses über die Rolle von Trump und seinen Verbündeten bei der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 angehört.
Die Wähler in Wyoming sind jedoch nach wie vor von Trump begeistert. Also wählten sie Cheneys von Trump unterstützte Gegnerin Harriet Hageman, eine glühende Verfechterin der Big Lie und der meisten anderen Verschwörungstheorien, die die Trump-Welt hervorgebracht hat.
Doch Cheney ist noch nicht am Ende. Sie hat die Gründung eines Political Action Committee angekündigt, einer privaten politischen Organisation, die sich darauf konzentrieren soll, Bedrohungen für die Demokratie aufzuzeigen und sich allen Bemühungen Trumps um eine zweite Amtszeit als Präsident zu widersetzen. Sie erwägt sogar, 2024 selbst für das Präsidentenamt zu kandidieren – ein Schritt, von dem viele annehmen, dass er zwar nicht zum Sieg führen würde, aber dazu beitragen könnte, Trump vom Weißen Haus fernzuhalten.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Cheney ist gegen Trump, nicht gegen republikanischen Konservatismus an sich. In politischen Fragen stimmte sie in 93% der Fälle mit ihrer Partei – und Trump – überein. Sie lehnte Trump und seinen „Personenkult“ erst ab, nachdem sie erkannt hatte, dass er eine tödliche Bedrohung für die amerikanische Demokratie und für die Republikanische Partei darstellt, die ihre Familie repräsentiert.
Das ist schon eine Ironie der Geschichte, wenn man bedenkt, dass die Regierung von Präsident George W. Bush – in der ihr Vater, Dick Cheney, als Vizepräsident diente – alles andere als ein Leuchtturm der Demokratie war. Tatsächlich wäre Trumps Präsidentschaft wahrscheinlich nicht möglich gewesen ohne die Regel- und Normbrüche, die unter Cheneys Aufsicht stattfanden. Und obwohl Cheney selbst sich 2015 gegen Trumps Nominierung hätte aussprechen können, tat er es nicht. In einem privaten Gespräch sagte er mir, dass er Trump unterstützen würde, einfach weil er der Kandidat der Republikanischen Partei sei. Seine Tochter folgte dann der gleichen Logik. Später hörte ich, dass er diese Entscheidung bereute – zu spät für ihn, seine Tochter und für Amerika.
In jedem Fall gehören die alten Mythen über den amerikanischen Westen mit seinen angeblich geradlinigen, ehrlichen Menschen oder über die praktischen und pragmatischen Bewohner des Mittleren Westens und die warmherzigen und gemeinschaftsorientierten Bewohner der im Südosten der USA gelegenen Bundesstaaten ad acta gelegt. Sechs Jahre nach der Trump-Revolution entscheidet sich eine Mehrheit der Republikaner in diesen Regionen für Verschwörungstheorien statt für die Wahrheit, für Stammesloyalität statt für das Land und für falsche Götter statt für Demokratie. Als die Wähler in Wyoming Gelegenheit bekamen, zwischen einer Gefolgsfrau von Trumps großer Lüge und einer Tochter der Cowboy-Aristokratie auszuwählen, entschieden sie sich für den psychopathischen Gott, der keiner war.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow