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Die Revolte der Regulierer

LONDON – Als ich in den Tagen vor dem großen Sündenfall der Finanzkrise des Jahres 2008 als Chef der britischen Finanzaufsichtsbehörde FSA fungierte, wurde mir von Finanziers, die etwas gegen unsere Eingriffe in ihr profitables Leben hatten, in regelmäßigen Abständen die Frage gestellt: „Quis custodiet ipsos custodes?” - Wer bewacht die Wächter?

Im lateinischen Originaltext bezieht sich Juvenal auf korrupte Wächter, die sich an Frauen vergreifen, deren Sittlichkeit sie eigentlich schützen sollten (kein Problem, mit dem ich mich auskenne). Doch für diejenigen, die mit ihren Aufsichtsbehörden hadern, ist diese Frage ein beliebter Leitsatz und Diskussionspunkt. Es handelt sich quasi um die finanzwirtschaftliche Entsprechung des oft gehörten Aufschreis am Kinderspielplatz: „So unfair!“

Damals habe ich den Vorwurf nicht sonderlich ernst genommen. Die FSA war weit davon entfernt, „einsame Entscheidungen über alle anderen hinweg“ zu treffen, wie der Vorwurf damals lautete. Vielmehr waren ihre Befugnisse durchaus mit Einschränkungen verbunden. Das Statut, innerhalb dessen wir operierten, war eng gefasst, und der Vorstand setzte sich überwiegend aus unabhängigen Außenstehenden zusammen, von denen einige aus der Branche kamen. Die Ausschüsse der betroffenen Wirtschaftsakteure und Verbraucher verfügten über das Recht auf Einsichtnahme, Regulierungsentscheidungen konnten – mit der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung - vor Gericht angefochten werden und ich hatte vor beiden Häusern des Parlaments regelmäßig Rechenschaft abzulegen.

In der Zeit nach 2008, als Banker kollektiv in die Kritik gerieten, wurde die Frage „quis custodiet“ selten gestellt. Doch vor kurzem tauchte sie in London in einer verschärften Version wieder auf. Die konservative britische Regierung erklärte nämlich ihre Absicht, im öffentlichen Interesse eine Interventionsbefugnis zu etablieren, die es Ministern – erklärtermaßen nur unter außergewöhnlichen Umständen und mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen -  ermöglichen würde, „einer Regulierungsbehörde die Weisung zu erteilen, Regeln zu erstellen, zu ändern oder aufzuheben.“

Den Kontext dafür bildet eine Reform des regulatorischen Umfelds nach dem Brexit, die London zu einem noch attraktiveren Ort für Finanzgeschäfte machen soll. Das Vorhaben wird manchmal als Big Bang 2.0 bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf Premierministerin Margret Thatchers Reform restriktiver Praktiken in der City of London im Jahr 1986, die eine lange, von der Finanzkrise 2008 kaum unterbrochene Wachstumsphase der Finanzwirtschaft einläutete und bis zum Brexit-Referendum 2016 andauerte.

Erklärtes Ziel war es, den Status der City of London als weltweit führendes internationales Finanzzentrum wiederzuerlangen. Doch nebenbei sollten auch die Vorteile des Brexit hervorgehoben werden, die die Regierung schon seit einiger Zeit zu erklären versucht, wobei ihre dahingehenden Bemühungen eher an die Suche der Franzosen nach dem scharlachroten Siegel in Baroness Orczys Roman erinnern. 

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Der Gedanke, die Regierung zu ermächtigen, in die Entscheidungen der Regulierungsbehörden einzugreifen, anstatt deren Ziele zu formulieren und die Regulierer für deren Einhaltung rechenschaftspflichtig zu machen, hat zu einer massiven Spaltung der Meinungen geführt. Wie würde die Regierung derartige Befugnisse nutzen? Könnte dies der Beginn einer Abwärtsspirale sein? Wie würde sich das mit internationalen Abkommen vereinbaren lassen? Könnte die Regierung dann etwa eine neue Basler Rahmenvereinbarung außer Kraft setzen?

Bemerkenswerterweise traten die Regulierungsbehörden in der Öffentlichkeit selbst kämpferisch auf. Der für Bankenaufsicht zuständige stellvertretende Gouverneur der Bank of England, Sam Woods, stellte die Grundlagen, auf denen die Entscheidung beruht, in Frage. „Einige denken vielleicht, dass eine derartige Befugnis die Wettbewerbsfähigkeit steigern würde,” so Woods. „Meiner Ansicht nach würde so etwas im Laufe der Zeit genau das Gegenteil bewirken, weil man damit unsere internationale Glaubwürdigkeit untergräbt und ein System schafft, in dem sich die Finanzregulierung viel stärker nach dem politischen Wind richtet – unter manchen Regierungen gäbe es schwächere Regulierungsmaßnahmen, unter anderen wieder strengere.“

Starke Worte – die auch der Chef der anderen wichtigen Regulierungsbehörde in London, der Financial Conduct Authority, aufgreift. Richard Lloyd, der interimistische Leiter der Behörde, teilte den Parlamentsabgeordneten mit, dass dieser Vorschlag Anlass zu „großer Sorge“ biete.

Woods' Ansicht über die Wettbewerbsfähigkeit Londons wird durch Umfragen gestützt, insbesondere jene der Beratungsfirma Z/Yen, im Rahmen derer versucht wird, die Attraktivität verschiedener Finanzzentren zu erheben. Die Befragten geben in der Regel an, dass sie bei der Wahl ihres Standorts eher regulatorische Sicherheit als niedrige Standards anstreben. Ihnen geht es um faire Behandlung unter minimaler politischer Einmischung, sowie darum, dass einheimische Unternehmen nicht bevorzugt werden und dass ihre Mitbewerber gut kapitalisiert und reguliert sind. Das ergibt Sinn. Schwache Regulierung ist kein Wettbewerbsvorteil.

In den Finanzunternehmen gingen die Meinungen über die vorgeschlagene neue Regierungsbefugnis auseinander. Einige, insbesondere die Versicherungsbranche, die der Meinung ist, dass die BOE die Solvabilitätsstandards unnötig restriktiv auslegt, konnten mögliche Vorteile erkennen. Andere merkten jedoch an, dass eine von einer „deregulierenden” Regierung ausgearbeitete Befugnis von einem Finanzminister mit einer anderen Agenda leicht ins Gegenteil verkehrt werden könnte. Wäre diese Befugnis so eng definiert, dass sie die Politik auf Distanz hält, hätte sie wenig Sinn. Ist sie einfach einzusetzen, könnte sie ebenso leicht missbraucht werden.

Wenn es um nationale Sicherheit geht – also in einem Bereich, wo es den Finanzregulierern an relevanten Kompetenzen oder Informationen fehlt – spricht manches durchaus für eine Befugnis zur Intervention in die Regulierung. Aber dabei geht es um eine höchst spezifische Art der Intervention und nicht um eine weit gefasste „Call-in“-Befugnis, die sich auf alle Vorschriften für Regulierungsbehörden bezieht.

Internationale Regulierungsbehörden verfolgten die Debatte in London mit einiger Nervosität. Würde sich das Vereinigte Königreich, das lange Zeit als Bastion regulatorischer Unabhängigkeit und wichtiges globales Finanzzentrum galt, in eine bestimmte politische Richtung bewegen, könnte das andere Regime ermutigen, ihre Zentralbanken und Regulierungsbehörden auch stärker an die Kandare zu nehmen. Das hätte womöglich eine gefährliche Fragmentierung zur Folge.

Angesichts der Frontalopposition der Regulierungsbehörden gegen den Plan der Regierung befand sich diese in einer ausweglosen Position. Doch klugerweise befolgte man Ende November die erste Regel für derartige Situationen und manövrierte sich nicht noch weiter in das Dilemma. Vorerst wird man nicht weitermachen, und wir können davon ausgehen, dass die Idee bis zur nächsten Wahl vom Tisch ist. Die Vorteile des Brexit müssen also anderswo gefunden werden.

„Cave quid volunt” ist eine weniger bekannte lateinische Redensart als „quis custodiet ipsos custodes” und hat ihren Ursprung auch nicht in der Literatur. Doch die Mahnung „Sei vorsichtig, was du dir wünschst” ist oftmals ein guter Rat – für Finanzunternehmen und Regierungen gleichermaßen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/r6bB1dEde