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Widerstandsfähigkeit in Unternehmen neu denken

LONDON/GENF – Covid-19 ist die größte Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit seit hundert Jahren und hat die tiefste wirtschaftliche Rezession der Neuzeit verursacht. Die Pandemie hat Schwachstellen in öffentlichen Gesundheitssystemen und sozialen Sicherheitsnetzen auf der ganzen Welt aufgedeckt, enorme Ungleichheiten sichtbar werden lassen und gezeigt, wie größere Störungen miteinander verbundene Systeme wie eine Lawine überrollen können. Offensichtlich sind unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften nicht annähernd so widerstandsfähig, wie wir geglaubt hatten.

Ein Grund dafür, dass es uns so schwer fiel, auf die Corona-Krise zu reagieren, liegt darin, dass wir „slack“, also einen Überschuss an Ressourcen, energisch aus unseren Systemen verbannt haben. Unternehmen sind zu Jüngern des Evangeliums der Effizienz und der Just-in-time-Produktion geworden, Regierungen in einer finanziell angespannten Situation haben Mühe, selbst grundlegende Dienstleistungen zu erbringen, und wir haben die natürlichen Systeme an ihre Grenzen gebracht. Jetzt, da eine Krise eingetreten ist, sehen wir, dass das, was als slack empfunden wurde, notwendiger Überfluss war.

Weitere Krisen stehen bevor, angefangen bei Dominoeffekten infolge der Corona-Pandemie bis hin zu den vollen Auswirkungen des Klimawandels und anderer Störungen der natürlichen Systeme, auf die wir angewiesen sind. Einige Krisen werden unweigerlich als „schwarze Schwäne“ ohne Vorwarnung eintreten, aber viele andere werden das sein, was Michele Wucker als „graue Nashörner“ bezeichnet: Sehr wahrscheinliche, folgenschwere Bedrohungen, die nicht zu übersehen sind, die wir aber lieber ignorieren.

Jeder CEO sollte während seiner Amtszeit mit mindestens einem größeren Schock rechnen und sich entsprechend vorbereiten und führen. Obwohl es immer mehr Analysen zu den Auswirkungen von Covid-19 auf die Wirtschaft gibt, sind die meisten nach wie vor schwerpunktmäßig der unmittelbaren Reaktion gewidmet. In einem unlängst erschienenen Kurzdossier untersuchen die Firmen, für die wir tätig sind, daher, wie Unternehmen ihr langfristiges Denken und Planen verbessern und sich besser auf ähnliche zukünftige Ereignisse vorbereiten können.

Unsere Arbeit baut auf Diskussionen mit Mitgliedern des World Business Council for Sustainable Development und einer Reihe von Interviews mit Firmen mit Sitz in Asien, Europa und Amerika auf. Sie beinhaltet zudem Erkenntnisse über die Auswirkungen der Pandemie aus der Umfrage 2020 GlobeScan/SustainAbility Leaders Survey, und stützt sich ferner auf eine umfassendere Untersuchung der langfristigen Widerstandsfähigkeit und der Reaktionen von Unternehmen auf die Corona-Krise.

Im Kurzdossier werden drei wichtige Lehren für die Wirtschaft hervorgehoben. Erstens: Wir können uns nicht vor grauen Nashörnern oder schwarzen Schwänen verstecken. Unternehmen müssen sich sowohl auf bekannte als auch auf unbekannte Bedrohungen besser vorbereiten – zum Teil, indem sie erneut slack in unseren Systemen zulassen. Um zukünftigen Schocks standzuhalten, müssen Unternehmen ihre Perspektive erweitern und auf langfristige Widerstandsfähigkeit ausrichten. Entscheidend ist, dass sie akzeptieren müssen, dass die Widerstandsfähigkeit eines Unternehmens nicht nur von dem bestimmt wird, was sich innerhalb seiner vier Wände abspielt, sondern auch von Ökosystemen, Gemeinschaften, wirtschaftlichen Bedingungen, Rechtsstaatlichkeit, effektiver Unternehmensführung und anderem.

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Zweitens müssen Unternehmen die Widerstandsfähigkeit sobald diese aufgebaut ist, tiefer in ihrem Sprachgebrauch und vor allem in ihrer Praxis verankern, um zu verhindern, dass sie verkümmert. Unternehmen, die dies tun, werden in der Lage sein, alle zukünftigen Szenarien zu antizipieren und sich auf sie vorzubereiten, die Auswirkungen der Schocks, die sie treffen, zu minimieren und sich schneller davon zu erholen. Wir haben festgestellt, dass Unternehmen, deren Werte und Purpose – wörtlich „Zweck“, aber auch „Sinn“ und „Bestimmung“ – tief verankert sind und auf allen Ebenen weithin verstanden werden, in Krisenzeiten agiler und entscheidungsfreudiger sein können. Eine Unternehmenskultur, die im Einklang mit dem Purpose und der Vision ist, trägt dazu bei, Vertrauen und Offenheit aufzubauen, die für eine effektive und authentische interne und externe Kommunikation sowie für die Zusammenarbeit unerlässlich sind.

Drittens können Unternehmen eine größere langfristige Widerstandsfähigkeit durch verbesserte Ansätze für das Risikomanagement, Human- und Sozialkapital sowie durch Information in den Bereichen Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung (kurz ESG) aufbauen. In jedem dieser Bereiche müssen Unternehmen Wert auf bestimmte Schritte legen.

Ein besseres Risikomanagement erfordert vor allem einen Wechsel von traditionellen regelbasierten Ansätzen zu flexibleren, regelmäßigen und prozessorientierten Methoden, die ein kontinuierliches Lernen und Erkunden ermöglichen. Es verlangt von den Unternehmen zudem die Einbeziehung von Instrumenten und Ansätzen, die geeignet sind, das Denken über den Tellerrand hinaus anzuregen und schwer vorhersehbare Bedrohungen („unknown unknowns“) aufzuzeigen.

Um das Management des Human- und Sozialkapitals zu verbessern, ist es erforderlich, den Menschen innerhalb und außerhalb des Unternehmens zuzuhören und auf sie einzugehen und sicherzustellen, dass die gesammelten Erkenntnisse zur Definition und Aufrechterhaltung der Unternehmensvision genutzt werden. Darüber hinaus sollten Unternehmen erwägen, die ursprünglich für ihre Mitarbeiter konzipierten Maßnahmen zum Schutz der Belegschaft auf die Belegschaft von Zulieferern und nicht fest angestellte Mitarbeiter in der gesamten Wertschöpfungskette auszudehnen. Da wir versuchen, die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Dimensionen der Pandemie über einen längeren Zeitraum auszutarieren, müssen wir darüber hinaus die Maßnahmen für Arbeitnehmer, die miteinander und mit der Öffentlichkeit in Kontakt stehen, ständig anpassen und verbessern.

Schließlich müssen Unternehmen die Offenlegung von ESG-Aspekten weiter verbessern, insbesondere durch die beschleunigte Festlegung gemeinsamer Standards und Kennzahlen und durch die Bereitstellung von mehr Informationen zu Themen, die für die Widerstandsfähigkeit der Unternehmen während der Pandemie entscheidend sind (wie das Wohlergehen der Mitarbeiter, Vielfalt und Integration sowie Sicherheit). Unternehmen müssen auch ihre Nachhaltigkeitsbewertungen verbessern, indem sie eine größere Vielfalt an Stakeholder-Perspektiven, längere Zeiträume und eine breitere Szenarienplanung einbeziehen und sozialen Fragen bei der Offenlegung und Strategie mehr Gewicht verleihen.

Bei Widerstandsfähigkeit geht es weniger darum, einen stabilen Zustand aufrechtzuerhalten, sondern vielmehr darum mit agilen, dynamischen und transformativen Verhaltensweisen und Handlungen auf Druck zu reagieren – mit anderen Worten: anpassungsfähig zu sein. Dies setzt wiederum voraus, dass Unternehmen Nachdruck auf Purpose und Werte in der Führung legen, die Einbeziehung der Interessengruppen fördern und die Lieferketten umgestalten. Vor allem aber müssen sich Unternehmen längerfristiges Denken sowie neue und nachhaltige Geschäftsmodelle und Verhaltensweisen zu eigen machen.

Bei echter Widerstandsfähigkeit geht es nicht darum, schwierige Bedingungen zu überstehen, sondern darum, bereitwillig aufzugreifen, was nötig ist, um auf Unternehmens- und Systemebene zu gedeihen. Widerstandsfähigkeit beruht nicht nur auf dem zuverlässigen Zugang zu Rohstoffen und auf betrieblicher Effizienz, sondern auch auf dem Erkennen und dem Schutz der enormen Investitionen und des Wertes, die in qualifizierten und gesunden Arbeitskräften und lebendigen Gemeinschaften zu finden sind. Voraussetzung für Widerstandsfähigkeit sind der Schutz und die Verbesserung lebenswichtiger Ökosysteme sowie die Gewährleistung starker Institutionen, transparenter Rechtsstaatlichkeit und gesunder nationaler und lokaler Haushalte. Und es bedeutet, die zentrale Rolle der Innovation bei der Wertschöpfung angesichts von Herausforderungen und Störungen anzuerkennen.

Covid-19 zwingt Unternehmen dazu, ihre Widerstandsfähigkeit neu zu konzipieren. Anstatt zu versuchen, ihre Fähigkeit zu stärken, gegen Veränderungen zu bestehen, müssen Unternehmen lernen, sich anzupassen und wandlungsfähig zu sein, wenn sie weiter als Arbeitgeber, Wertschöpfer für Aktionäre und vertrauenswürdige Mitglieder von Gemeinschaften (in deren Dienst sie stehen) auf der ganzen Welt existieren wollen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/X9sCKKCde