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Die Profitfalle

LONDON: „Ich werde Sie nicht weiter belästigen.“ Mit diesen Worten schließt Colin Mayer sein Buch Capitalism and Crises: How to Fix Them, den dritten Teil seiner Trilogie – nach Firm Commitment und Prosperity –, in der er die Rolle des Unternehmens in der modernen Welt analysiert. Das Buch hat einen hohen Anspruch und stellt vermutlich den Höhepunkt von Mayers Bemühungen dar, eine in die Tiefe gehende, nuancierte Beschreibung des zeitgenössischen Kapitalismus, seiner Funktionsstörungen und der zu ihrer Behebung erforderlichen Maßnahmen zu liefern.

Mayer geht davon aus, dass der Kapitalismus zu einer Hauptursache für globale Probleme geworden ist, obwohl er eigentlich Lösungen für bestehende Herausforderungen liefern sollte. Er glaubt, dass der Kapitalismus zu einer Kraft des Guten werden kann, aber nur, wenn wir es schaffen, ein besseres Verständnis der Wirtschaft und der sie antreibenden Dynamik zu entwickeln.

Sein Ansatz ist erfrischend multidisziplinär. Er stützt sich auf eine Fülle von Fakten, Quellen und Erkenntnissen aus seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Unternehmensberater und langjähriger Professor für Managementstudien an der Universität Oxford. Jeder, der hofft, den Kapitalismus und den Liberalismus bewahren zu können, wird sein Werk ebenso inspirierend wie grundlegend finden.

Problematisches Profitstreben

Gestützt auf wissenschaftliche Stringenz und viele überzeugende Beispiele bringt Mayer einige Argumente vor, die für praktizierende Kapitalisten – insbesondere Marktfundamentalisten – ketzerisch klingen werden. So räumt er beispielsweise ein, dass Finanzmittel allzu oft schlecht gelenkt und verteilt werden, da sie in der Regel nicht die Menschen oder Länder erreichen, die ihrer am dringendsten bedürfen. Stattdessen neigt das Anlagekapital dazu, Kaufkraft und bestehenden Finanzierungen hinterherzujagen, was dazu führt, dass das Geld auf ungerechte und ineffiziente Weise verteilt wird.

Mayers zentraler Punkt ist, dass dieses unbefriedigende Ergebnis aus der einzigartigen Besessenheit des Kapitalismus mit dem Streben nach Profit resultiert. Es ist dieser Anreiz und nicht ein höherer Zweck oder der Wunsch, Probleme zu lösen, der letztlich das System und das Verhalten seiner einzelnen Teilnehmer organisiert. Die alles beherrschende Natur des Profitmotivs erklärt, warum das kapitalistische System negative externe Effekte derart konsequent ausblendet – und zwar selbst Effekte wie langfristige Umweltschäden, die die Profite unmoralisch werden lassen.

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Trotz des grundlegenden Mankos des Systems plädiert Mayer dafür, das System nicht aufzugeben, sondern umzugestalten. Er erinnert uns daran, dass der Vater des Kapitalismus, Adam Smith, nicht nur der Verfasser von Der Wohlstand der Nationen, sondern auch von Theorie der ethischen Gefühle war – einem Werk, das heute in Vergessenheit geraten zu sein scheint, obwohl es für Smiths Denken gleichermaßen zentral ist. Wie Smith hält Mayer trotz seiner grimmig-realistischen Einschätzung menschlicher Selbstbezogenheit am Kapitalismus fest, weil er weiß, dass dieser „aus einer Kloake von Lastern ein sich selbst entzündendes Freudenfeuer von Tugenden“ schaffen kann.

Der Kapitalismus bietet zudem eine Grundlage für den Liberalismus, da er freie Entscheidungen und Handlungsfähigkeit erfordert. Das Problem liegt nach Mayers Ansicht in der Konfiguration der beiden wichtigsten Säulen des Systems: dem Wettbewerb (der Preissignale erzeugenden „unsichtbaren Hand“) und den von den Regierungen zum Schutz der Gesellschaft aufgestellten Regeln. Beide Elemente haben das Potenzial, gesellschaftlich vorteilhaftere Ergebnisse zu gewährleisten; in ihrer jetzigen Form haben sie jedoch das grundlegend fehlerhafte, profitzentrierte Modell verfestigt.

Neue Regeln

Beispiele für unerwünschte Ergebnisse im Rahmen des derzeitigen Systems gibt es natürlich zuhauf. Anhand des „Dieselgate“-Skandals von Volkswagen und der Abläufe, mittels derer Technologie-Unternehmen wie Alphabet (Google) und Meta (Facebook) zu Monopolen wurden, beleuchtet Mayer dieses moralische Versagen auf überzeugende Weise. Das „Ich“ hat das „Wir“ ersetzt, und es ist kein Wunder, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in das System und in die Eliten auf einem historischen Tiefstand zu sein scheint.

Aber das muss nicht so sein. Mayers Aussichten sind der Meinung nicht unähnlich, die Elon Musk kürzlich äußerte: „Hart zu arbeiten, um nützliche Produkte und Dienstleistungen für seine Mitmenschen herzustellen, ist zutiefst moralisch gut.“ Mayer würde jedoch hinzufügen, dass ein höherer Zweck an erster Stelle stehen muss und der Gewinn als gesunde, logische Konsequenz folgt, anstatt das alleinige Ziel zu sein.

Die COVID-19-Krise hat die Machbarkeit eines derartigen Neustarts aufgezeigt. Angesichts einer massiven und weitreichenden Bedrohung wurden alle möglichen „grundlegenden“ Regeln und Gesetze zur Regelung von Märkten und Wettbewerb kurzerhand umgangen. Es herrschte ein breiter Konsens über ein höheres Ziel, und die Unternehmen, die sich an der Lösung unseres neuen gemeinsamen Problems beteiligten, konnten schließlich finanzielle Gewinne aus ihren Beiträgen ziehen.

Mayer schlägt zwei neue Grundprinzipien für den Kapitalismus vor. Das erste ist sein „moralisches Gesetz“, das besagt, dass diejenigen, die Lösungen produzieren, von ihren Bemühungen profitieren sollten, aber dass sie alle auch für die von ihnen verursachten Probleme bestraft werden sollten. Das zweite, damit zusammenhängende Prinzip ist eine umformulierte Goldene Regel, um negative externe Effekte zu bekämpfen: „Behandle andere so, wie sie gern behandelt werden wollen.“

Diese Grundsätze mögen recht weitreichend sein, aber sie sind für eine Reform des Systems unerlässlich. Zu viele Unternehmen sind „psychopathisch“ geworden in ihrem monomanischen Streben nach kurzfristigen Gewinnen, was sie dazu verleitet, immer ausbeuterischer, manipulativer und sozialschädlicher zu werden.

Über die bereits aus bekannten Skandalen vertrauten Namen (von Enron über die Danske Bank bis hin zu Volkswagen) hinaus stellt Mayer problematisches Verhalten in einem viel größeren Rahmen fest. Er verweist auf Telekommunikationsunternehmen, die Kunden hindern, den Anbieter zu wechseln, auf Wasserversorger, die die Umwelt verschmutzen, und auf Öl- und Gasunternehmen, die eigene Aktien zurückkaufen statt in erneuerbare Energien und Dekarbonisierung zu investieren. Alle sind gleichermaßen besessen vom Gewinn oder Aktienkurs, und alle haben sich infolgedessen unmoralisch verhalten.

Wo soll man ansetzen?

Während es schwerfällt, Mayers Bewertung der Probleme des Systems zu widersprechen, lässt sein Handlungsvorschlag Fragen offen. Natürlich wäre es ein guter Anfang, sein moralisches Gesetz in das Gewohnheitsrecht zu überführen – nicht unähnlich dem, was der jüngste britische Stewardship Code tut. Aber wie Mayer selbst zugibt, muss der Wandel wirklich global sein. Seine Vision eines aufgeklärteren Kapitalismus wird sich schwer verwirklichen lassen, solange es freundliche Rückzugsorte wie Delaware in den USA und Luxemburg in der Europäischen Union gibt.

Darüber hinaus ist die gesetzliche Verankerung seiner neu formulierten Goldenen Regel mit praktischen Schwierigkeiten verbunden, da uns eine stringente und überzeugende Methode zur Bewertung der externen Effekte vieler Branchen fehlt. Man denke an all die vielen Lebensmittelunternehmen, die eine ungesunde Abhängigkeit von Zucker, Salz und Fett erzeugen, und an all die vielen Arten, wie Automobilhersteller oder Bauunternehmen die Umwelt schädigen können, oder an die Technologie-, Telekommunikations- und Medienunternehmen, die riesige Mengen an Informationen konsumieren, sensationslüsterne Inhalte verbreiten und die Öffentlichkeit falsch informieren.

Diese Probleme sind klar erkennbar. Es ist jedoch etwas ganz anderes, sie zu messen oder gar zu formulieren und zu bewerten, was ein (über dem Gewinn stehender) höherer Zweck wäre.

Trotz dieser praktischen Unzulänglichkeiten bietet Mayers Buch aufschlussreiche Beiträge, die über die übliche Debatte zwischen Aktionären und Stakeholdern hinausführen. Auch wenn die Verwirklichung eines moralischen, aufgeklärten Kapitalismus auf globaler Ebene unerreichbar scheint, gibt es doch dezentralere Möglichkeiten, um die Art und Weise zu verändern, wie Unternehmen geschäftlich agieren.

So plädiert Mayer etwa dafür, den Aktienbesitz von einem Bündel von Rechten in eine Reihe von Pflichten und Verantwortlichkeiten umzuwandeln, um die Erfüllung eines höheren Unternehmenszwecks zu gewährleisten. Beim Aktienbesitz ginge es dann nicht mehr nur darum, einen Strom von Kapitalflüssen und ein gewisses Mitspracherecht bei der Unternehmensführung zu besitzen, sondern man trüge eine Verantwortung für das Problem, das das Unternehmen zu lösen versucht. Mit anderen Worten: Ein Vorstand würde sich hauptsächlich auf den übergeordneten Zweck des von ihm geleiteten Unternehmens konzentrieren und verfolgen, wie effektiv es bei der Lösung bestimmter Probleme ist und welche negativen externen Effekte es dabei erzeugt. In einer von börsengehandelten Fonds und der Verfolgung von Indizes beherrschten Finanzwelt käme allein diese Veränderung einer kopernikanischen Revolution gleich.

Ich setze mich seit langem für die Art von Veränderungen ein, die Mayer empfiehlt, insbesondere was börsennotierte Unternehmen angeht. Es dauert viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, um neue Unternehmensstrategien zu entwickeln, komplexe Probleme zu lösen und negative externe Effekte anzugehen. Solche Zeithorizonte stehen jedoch in völligem Widerspruch zu dem bei Eigentümern und Managern vorherrschenden kurzfristigen Denken. In der heutigen Diktatur der Aktienkurse zählen allein die Quartalsergebnisse.

Es braucht dringend einen neuen Ansatz. Die Vorstände könnten verpflichtet werden, dafür zu sorgen, dass jeder Teil des Unternehmens zur Verfolgung langfristiger Ziele beiträgt, die mit dem eigentlichen Geschäftszweck (statt der Erzielung kurzfristiger Gewinne um des Gewinnes willen) im Zusammenhang stehen. Dezentrale Finanzierungsquellen – wie Kapitalgeber oder Finanzinstitute – können ein größeres Mitspracherecht erhalten, was eine genaue Messung ermöglicht, die durch die Aggregation auf globaler Ebene unmöglich wird. Und der übliche Zeithorizont für die Leistungsmessung könnte erheblich verlängert werden, z. B. durch Anreizpläne, die sich auf grundlegende Kennzahlen stützen, welche erst nach fünf Jahren oder mehr gemessen werden.

Mayers Buch leistet einen wichtigen Beitrag zur Debatte über den heutigen Kapitalismus und seinen Abstieg in die Dysfunktionalität. Das System zu reparieren und zu ändern, wie wir darüber denken, ist entscheidend für den Erhalt der Demokratie, der freien Märkte und des Kapitalismus selbst. Mayer liefert überzeugende Argumente dafür, warum ein höherer Zweck an die Stelle des Profits als vorrangiges Ziel für Unternehmen und Märkte treten muss. Auch wenn noch unklar ist, wie sich dies in der Praxis bewerkstelligen lässt, ist es offensichtlich, dass dies unsere Aufgabe sein sollte.

Wir werden dabei längere Zeithorizonte, dezentralere Modelle der Unternehmensführung und öffentlich-private Partnerschaften in Betracht ziehen müssen. Mayers Kernprinzipien werden uns bei dem Versuch, unsere jetzige Form des Kapitalismus vor sich selbst zu retten, gute Dienste leisten.

Colin Mayer, Capitalism and Crises: How to Fix Them, Oxford University Press, 2024.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/GBHwZ33de