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Wie ungewöhnlich ist die kapitalistische Vetternwirtschaft in China?

WASHINGTON, DC – Obwohl die chinesische Wirtschaft nun langsamer wächst, hat sie doch einen beeindruckenden Weg zurückgelegt: Seit der Einführung des Kapitalismus in den 1980ern hat sich China von einem der ärmsten Länder zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt entwickelt. Noch bemerkenswerter ist, dass dies gelang, obwohl es immer wieder Korruptionsskandale gab. Wegen dieser Verbindung rasanten Wachstums mit massiver Korruption nennt der Ökonom Paolo Mauro das Land – einen „gigantischen Sonderfall“.

Traditionell ist es Konsens, dass die westlichen Industriestaaten genau deshalb zu Wohlstand gelangt sind, weil sie die Korruption ausgerottet und vorbildliche Verwaltungssysteme aufgebaut haben. Diese Ansicht wird auch durch länderübergreifende statistische Studien unterstützt, die anhand globaler Kennzahlen zur Korruptionswahrnehmung stets zu dem Ergebnis kommen, dass Korruption wachstumshemmend wirkt. Aber wie konnte die chinesische Wirtschaft dann trotz ihrer Korruption so schnell wachsen? Und warum verlangsamt sich dieser stetige Aufschwung erst heute – nach vier Jahrzehnten?

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir die Debatte aus einem anderen Blickwinkel sehen – und insbesondere die populären historischen Narrative des Westens und die Aussagekraft der globalen Korruptionsindizes hinterfragen.

Tatsächlich zeigt ein Blick in die jüngere Geschichte, dass China gar nicht so einzigartig ist: Als die Vereinigten Staaten Ende des 19. Jahrhunderts ein Schwellenland waren, gab es auch dort massive Korruption. Aber viele Elemente der amerikanischen Blütezeit sind schon lange in Vergessenheit geraten.

Durch die globalen Kennzahlen zur Korruptionsmessung wird zwar die „Korruption der Armen“ erfasst, nicht aber die „Korruption der Reichen“. Diese nur teilweise relevanten Indikatoren verschleiern ein wichtiges historisches Muster: Kapitalistische Großmächte wie die USA haben die Korruption nicht unbedingt ausgerottet: Ihre Korruption hat sich vielmehr zu einem legalisierten Austausch zwischen Eliten entwickelt, der oft zu Finanzblasen geführt hat.

Ungewöhnlich erscheint China daher nur dann, wenn man den idealisierten Westen zum Maßstab nimmt. Aber sobald die Mythologie wegfällt, wird klar, dass Chinas kapitalistische Entwicklung der westlichen Erfahrung ähnlicher ist, als die meisten Menschen glauben.

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America First

Zwischen berüchtigten Selbstbedienungsländern wie Nigeria auf der einen und Amerika oder China während ihrer jeweiligen Blütezeit auf der anderen Seite gibt es einen erheblichen Unterschied: Entscheidend ist die Qualität der Korruption. In den USA und China hat sie sich im Laufe der Zeit verändert – von Übervorteilung und Diebstahl hin zu einem subtileren Austausch von Macht und Profit. Während die räuberischen Formen der Korruption – wie Unterschlagung oder Erpressung – immer mehr gezügelt werden konnten, ist das „Eintrittsgeld“, mit dem sich Politiker und politisch vernetzte Kapitalisten gegenseitig Gefälligkeiten erweisen und bereichern, geradezu explodiert. Auf diese Weise werden riskante Geschäfte gefördert und die Ungleichheit verstärkt.

Im Amerika des 19. und 20. Jahrhunderts wurden die Probleme einer solchen Vetternwirtschaft mehrmals deutlich: So wurde die Panik von 1837 teilweise durch riskante, intransparente und korrupte Arten der öffentlichen Infrastrukturfinanzierung ausgelöst, die den heutigen chinesischen Problemen erschreckend ähneln.

Oder, anders ausgedrückt, als „Sonderfall“ kann man China nur bezeichnen, wenn man es mit einer mythischen Version der westlichen Geschichte vergleicht, die heute allgemein für richtig gehalten wird. Betrachtet man die tatsächliche historische Entwicklung, wird auch der Westen zum Sonderfall.

Während der Blütezeit der USA haben Kapitalisten mit Politikern gemeinsame Sache gemacht, um durch die Gründung neuer Industriezweige enormen Reichtum anzuhäufen. Tatsächlich waren einige Politiker selbst Kapitalisten – wie etwa der „Räuberbaron“ Leland Stanford (nach dem die Stanford-Universität benannt ist). Indem Stanford seine Vorrechte als Gouverneur von Kalifornien ausnutzte, hat er die Gesetzgebung seines Bundesstaates beeinflusst, um die Eisenbahnprojekte seines Konzerns zu subventionieren. So konnte er die Gewinne für sich behalten und die Risiken auf die Allgemeinheit abwälzen. Stanfords Mitarbeiter waren dafür bekannt, kofferweise Aktienpakete der Firma bei sich zu tragen, um damit Politiker zu bestechen. Und um Kosten für den Eisenbahnbau zu sparen, hat sein Konzern Fremdarbeiter aus China eingestellt, die er bei Protesten hungern ließ, um sie gefügig zu machen.

Ein großer Teil dieser zweifelhaften Vergangenheit wird von der Entwicklungsökonomie ignoriert. Die üblichen Darstellungen neigen dazu, Teile der westlichen Geschichte besonders zu betonen und die Wachstumseffekte einiger gefeierter Episoden – darunter besonders die „Glorreiche Revolution“ in England von 1688 – zu übertreiben, während sie die unbequeme Wahrheit von Betrug und Ausbeutung gern unter den Tisch fallen lassen.

Durch die „Glorreiche Revolution“ wurde damals zwar das Parlament (das lediglich die landbesitzende Elite vertreten hat) gegenüber der Monarchie gestärkt, aber die übliche Behauptung, dies habe direkt zur Industriellen Revolution geführt, ist zweifelhaft. Historiker haben gezeigt, dass die englische Regierung nach der Revolution sogar noch gieriger wurde, aber solche Erkenntnisse wurden lang ignoriert, weil sie nicht das waren, was das Establishment hören wollte.

Verstärkt wurde diese mythologisierte westliche Geschichte noch durch globale Kennzahlen, die, wie es Sally Engle Merry einst ausdrückte, „eine Aura objektiver Wahrheit vermitteln … trotz der enormen Interpretationsarbeit, die in ihre Entwicklung einfließt“. Sowohl die Indikatoren zur weltweiten Governance der Weltbank als auch der Index der Korruptionswahrnehmung (CPI, Corruption Perceptions Index) von Transparency International vermitteln der Eindruck, Korruption beschränke sich auf arme, rückständige Länder, während der Globale Norden weitgehend tugendhaft sei.

Die Politikwissenschaftlerin Alina Mungiu-Pippidi meint sogar, Großbritannien, „der klassische Performer“ und die „Splitter des britischen Empires [mit] Bevölkerungen europäischer Abstammung“ hätten ein Endstadium des „ethischen Universalismus“ erreicht. In diesen Oasen des Glücks finde eine „gleiche Behandlung aller“ statt (eine Behauptung, die angesichts extremer Ungleichheit und massiver populistischer Rückschläge in vielen heutigen Industriestaaten verblüfft).

Wie ich kürzlich kommentiert habe, ist es vielmehr so, dass die globalen Kennzahlen „systematisch dasjenige zu wenig messen, was ich (im Gegensatz zur ‚Korruption der Armen’) die ‚Korruption der Reichen’ nenne – die zu Legalisierung oder Institutionalisierung neigt und auf versteckte Weise unethisch ist“. Systembedingt lassen die üblichen Methoden zur Korruptionsmessung reiche Länder gut aussehen, da sie all die subtilen Schattengelder und finanziellen Schikanen ignorieren, die in den letzten Jahren ans Licht gekommen sind.

Wie sich Korruption entwickelt

Die Qualität der Korruption wird von den offiziellen Kennzahlen übersehen, da sie ihr Objekt als eindimensionales Problem betrachten, das auf einer Skala von Null bis Hundert abgebildet werden kann. Aber Korruption kann viele Arten annehmen, die unterschiedliche Schäden anrichten. Deshalb unterscheide ich vier Kategorien: Bagatelldiebstahl (Erpressung durch niedrige Beamte), schweren Diebstahl (Veruntreuung durch Politiker), Schmiergeld (kleine Bestechungen, um bürokratische Hürden oder Schikanen zu umgehen), und „Eintrittsgeld“ (große Bestechungsgelder für exklusive, lukrative Privilegien wie Verträge oder Unterstützung).

Bagatelldiebstahl und schwerer Diebstahl wirken wie giftige Chemikalien und zerstören jede Gesellschaft. Schmiergeld wirkt mehr wie ein Schmerzmittel: Es kann Unternehmen helfen, Bürokratie zu überwinden, aber es hilft ihnen nicht beim Wachstum. “Eintrittsgeld“ hingegen wirkt wie Anabolika: Kapitalisten belohnen Politiker nicht nur dafür, Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, sondern kaufen sich damit auch lukrative Privilegien und Gefälligkeiten. Dabei werden alle Beteiligten reich, aber mit der Zeit häufen sich die gefährlichen Nebenwirkungen.

Über zwei Jahrhunderte hinweg hat sich die Korruption in Amerika verändert: Offener Diebstahl und geringfügige Bestechung haben sich zu legalem „Eintrittsgeld“ entwickelt. Wegen der Skandale der Blütezeit wurden in der progressiven Phase erhebliche Verwaltungsreformen durchgeführt. Das System politischer Anreize wurde abgebaut und durch eine professionelle Verwaltung ersetzt, die ihr Einkommen nicht mehr mit Sondergebühren oder Bestechungsgeldern auffrischen musste. Transparenz und Buchhaltung beendeten den Missbrauch öffentlicher Gelder, und Machtmissbrauch wurde durch investigative Journalisten aufgedeckt. Ende des 20. Jahrhunderts schrieb die Historikerin Rebecca Menes dann: „Der bemerkenswerteste Aspekt der Veruntreuung war, wie wenig sie stattfand“.

Aber der Einfluss des Kapitals auf die Regierung ging weiter. Die Eisenbahn, der lukrativste Industriesektor aller Zeiten, expandierte – und professionalisierte gleichzeitig ihre Lobbytätigkeit. Statt Politiker zu bestechen, bezahlten die Unternehmen nun Einflussgruppen in Washington, um sich mit ihrer Hilfe Subventionen, Landrechte und andere Gefälligkeiten zu sichern. Dieses System existiert im Prinzip noch heute: Zwischen 2015 und 2023 wurden in den USA auf staatlicher und bundesstaatlicher Ebene 46 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit ausgegeben. Ökonomen des Internationalen Währungsfonds zeigen in einer Studie, dass US-Banken, die stärkere Lobbyarbeit betrieben, auch höhere Risiken eingingen und nach der Finanzkrise von 2008 stärker von Rettungsmaßnahmen profitieren konnten.

Seit den 1980ern findet in China – viel später als in den USA – eine ähnliche Entwicklung statt: Während der ersten Stadien der Entwicklung waren auch dort Diebstahl, Bestechung und Erpressung üblich. Aber in den 1990ern führte die Regierung Reformen durch, um rechtswidrige Handlungen besser unter Kontrolle zu bekommen.

Wie die Abbildung unten zeigt, gab es im China der 1990er viel mehr Korruption durch Diebstahl (Veruntreuung und Missbrauch öffentlicher Mittel) als durch Austausch (Bestechung). Aber innerhalb nur eines Jahrzehnts kehrte sich dieses Muster um: Die Veruntreuung ging zurück, während immer mehr bestochen wurde – mit immer größeren Summen und bei immer höheren Beamten. Aber die institutionalisierten Geldzuwendungen, wie sie in den USA üblich sind, sind in China immer noch illegal und in persönliche Beziehungen eingebettet.

[Abbildung 1]

Die Gefahren „wirtschaftlicher Anabolika“

Chinas altes Entwicklungsmodell konzentrierte sich völlig auf das BIP und vernachlässigte damit die Qualität des Wachstums. In diesem Umfeld war „Eintrittsgeld“ im Übermaß vorhanden. So konnte sich eine Handvoll Kapitalisten bereichern, die sich Privilegien kauften und die Politiker belohnten, die in ihrem Interesse handelten.

Aber natürlich animierte dieses System die Beamten auch dazu, perverse, unhaltbare Wachstumsmodelle zu verfolgen, die ihnen selbst und ihren Freunden maximale Vorteile verschafften und auf Kosten der sozialen Wohlfahrt gingen. Ab der 2000er Jahre verschacherten die Lokalpolitiker Grundstücke und investierten zu stark in Immobilien, weil dies die einfachste Methode war, die öffentlichen Kassen und ihre eigenen Taschen zu füllen.

Unterdessen hatten diese Beamten kaum Anreize, für die vielen Einwanderer vom Land, die in Fabriken und auf Baustellen arbeiteten, günstige Wohnmöglichkeiten zu schaffen. Daher konnten sich Millionen Arbeiterfamilien keine dringend benötigten Wohnungen leisten, während sich die Reichen leere Villen unter den Nagel rissen.

Zu ihren besten Zeiten häuften Chinas politisch unterstützte Immobilienentwickler immer mehr Land und günstige Kredite an. Die Regulierungsbehörden hatten bei riskanten Geschäften – wie dem Verkauf von Immobilien vor ihrer Fertigstellung – oft ein Auge zugedrückt oder diese Geschäfte erst möglich gemacht. An dieser 20-jährigen Jagd nach schnellen Gewinnen waren sehr viele Politiker beteiligt. So wird auch gegen den ehemaligen Justizminister Tang Yijun ermittelt – wegen seiner Verbindungen zu Evergrande, dem Immobiliengiganten, der letztes Jahr Insolvenz anmelden musste.

2020 kündigte die Zentralregierung „drei rote Linien“ (Kreditrestriktionen) an, um die übermäßige Verschuldung im Immobiliensektor abzubauen. Damit wurde der exklusive Zugang der Entwickler zu leichten Krediten beendet, und das Kartenhaus brach zusammen. Eins der ersten Opfer war Evergrande, dessen Gründer Hui Ka Yan einst der reichste Mann Asiens war. Viele Familien, die ihre gesamten Ersparnisse in von Evergrande gebaute Wohnungen gesteckt hatten, waren nun obdachlos – und auch Zulieferer wurden nicht bezahlt, was einen Teufelskreis von Schulden, Arbeitsplatzverlusten und Konsumschwäche auslöste.

Präsident Xi Jinping hat die Blütezeit seines Landes von seinen Vorgängern geerbt. Während sich frühere chinesische Staatschefs hauptsächlich darum kümmern mussten, durch Wachstum die Armut zu verringern, muss Xi sich nun mit der Vetternwirtschaft und den spekulativen Blasen beschäftigen. Mit seinem Kommando- und Kontrollansatz will er die kapitalistischen Exzesse im Land beenden und einen sauberen, qualitativ hochwertigen Entwicklungsweg vorantreiben, der auf technologischen Innovationen beruht. Im Gegensatz zu den progressiven US-Politikern im letzten Jahrhundert lehnt er politischen Aktivismus als Lösung gegen unausgewogenes Wachstum ab.

Ob Xi seine Strategie des „Roten Progressivismus“ weiter durchziehen kann, bleibt abzuwarten. Die historische Entwicklung in den USA lässt darauf schließen, dass jahrelange, schmerzhafte Anpassungen nötig sein werden, um der Wirtschaft nach dem Platzen einer Blase wieder auf die Füße zu helfen.

Eine größere Perspektive

Die allgemeine Sichtweise, Korruption behindere das Wirtschaftswachstum, die auf länderübergreifenden Studien mit globalen Indikatoren aufbaut, ist zu stark vereinfacht: Indikatoren wie der CPI erfassen in erster Linie – oder gar ausschließlich – die „Korruption der Armen“, während die „Korruption der Reichen“ viel schwerer erkenn- und messbar ist. Aber dies ist keine Entschuldigung dafür, so zu tun, als existiere die „Korruption der Reichen“ gar nicht.

Zerlegt man die Korruption in ihre verschiedenen Arten, sieht man, dass diese auf unterschiedliche Weise mit dem Einkommen korrelieren. Laut meinem eigenen Prototyp eines Index verschiedener Korruptionsarten, der zwischen den oben beschriebenen vier Varianten unterscheidet, konzentriert sich Schmiergeld in erster Linie auf arme Länder, während „Eintrittsgeld“ sowohl in armen als auch in reichen Ländern zu finden ist. Auch im Schattenfinanzindex des Netzwerks für Steuergerechtigkeit sind die Länder mit hohem Einkommen an der Spitze. Diese zwei Ergebnisse stehen in krassem Kontrast zum CPI, der die reichen Länder immer wieder als die saubersten darstellt.

[Abbildung 2]

Natürlich bedeutet die Tatsache, dass es in reichen Ländern „Eintrittsgeld“ gibt, nicht, dass es das Wachstum fördert. Stattdessen sollte es als zentraler Bestandteil der kapitalistischen Vetternwirtschaft verstanden werden – als Ursache übermäßiger Risiken und Verzerrungen, die schließlich zu Krisen werden, wie die asiatische Finanzkrise 2007, die US-Finanzkrise 2008 und Chinas anhaltende Immobilienprobleme zeigen.

Sowohl Amerika als auch China haben es während ihrer Blütezeit auf bewundernswerte Weise geschafft, den materiellen Lebensstandard hunderter Millionen Menschen zu verbessern. Aber ihr Wachstum war dabei weder fair noch nachhaltig. Letztlich bieten uns beide Zeiträume eine Lektion über unkontrollierte kapitalistische Vetternwirtschaft – und dienen keinesfalls als Modelle zur blinden Nachahmung.

Außerdem sollten die Ökonomen den Ratschlag ihres Kollegen Ha-Joon Chang beherzigen, „sowohl die bestehende als auch die historische reale Welt stärker zu beachten – und nicht die märchenhafte Interpretation der Weltgeschichte, für die die allgemeine institutionelle Ökonomie heute steht“.

In der tatsächlichen Geschichte des Kapitalismus gab es keinen einzelnen, mutigen Schritt, mit dem die westlichen Gesellschaften ideale Institutionen oder die perfekte Verwaltung geschaffen und damit ewigen Wohlstand erreicht hätten. Die politischen und institutionellen Reformen der frühen Entwicklung des Westen waren immer nur partiell, genau wie im modernen China. Bei der oben beschriebenen „Glorreiche Revolution“ wurde die Monarchie durch die demokratische Repräsentanz reicher Eliten gezähmt – und auf ähnliche Weise hat Deng Xiaoping die Macht im chinesischen Ein-Parteien-Systems teilweise begrenzt. In den USA war die Korruption zunächst sehr hoch und entwickelte sich erst später hin zum legalisierten „Eintrittsgeld“. Auch China ist diesen Entwicklungsweg teilweise schon gegangen.

Die Politiker anderer Entwicklungsländer wiederum dürfen die Historie der heutigen reichen Länder nicht zu sehr vereinfachen. Natürlich muss die Korruption unbedingt bekämpft werden, aber dies allein genügt nicht, um dauerhaftes Wirtschaftswachstum zu erreichen. Wie ich in How China Escaped the Poverty Trap (Wie China der Armutsfalle entkommen ist) beschrieben habe, spielen auch weitere Faktoren wie freundliche internationale Beziehungen, politische Stabilität, flexible Verwaltung oder privates Unternehmertum eine Rolle. Und auch China wurde durch sein eigenes, rekordverdächtiges Wachstum nicht für alle Zeiten glücklich, sondern muss nun die neuen, lästigen Probleme eines Landes mit mittlerem Einkommen lösen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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