yu73_Jiang QimingChina News Service via Getty Images_PBOC Jiang Qiming/China News Service via Getty Images

Chinas politisch bedingter Wirtschaftsabschwung

PEKING – Chinas wirtschaftliche Entwicklung hat in letzter Zeit beträchtlichen Pessimismus ausgelöst. Die chinesische Wirtschaft wuchs im zweiten Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahr um lediglich 6,3 %. Das enttäuscht angesichts des niedrigen Ausgangswerts im zweiten Quartal 2022, als die die Wirtschaftsaktivität noch immer durch pandemiebedingte Beschränkungen behindert wurde. Und im Juli beschritt Chinas Verbraucherpreisindex erstmals seit 2021negatives Terrain, was Befürchtungen über eine Deflationsspirale auslöste.

Ob dieser Pessimismus gerechtfertigt ist, hängt letztlich von der Antwort auf eine entscheidende Frage ab: Spiegelt der jüngste Rückgang des chinesischen BIP-Wachstums grundlegende Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie die Bevölkerungsalterung, abnehmende Skalenerträge, eine Verringerung des Nachzüglervorteils und steigende Umweltkosten wider, oder lässt sich ihm durch effektivere makroökonomische Maßnahmen begegnen?

Während kaum Zweifel besteht, dass die Ära nachhaltigen zweistelligen Wachstums vorbei ist, ist China gut aufgestellt, um auf absehbare Zukunft eine deutlich höhere Wachstumsrate zu erzielen als die meisten entwickelten Volkswirtschaften. Schließlich beträgt Chinas BIP pro Kopf noch immer nicht mal ein Viertel von dem der USA.

Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Politik: China muss sich weiter reformieren und öffnen und zugleich fiskal- und geldpolitische Hebel nutzen, um auf Wachstums- und Preisdaten zu reagieren. Sollten sich Wachstum und Inflation gedämpft entwickeln, ist eine expansive Fiskal- und Geldpolitik angesagt. Steigt die Inflation dagegen steil an, sollte eine Straffung erfolgen, selbst wenn das zu niedrigerem Wachstum führt.

Sofern es nicht zu sogenannten „Black-Swan-Events“ kommt, scheint ein steiler Anstieg der Inflation derzeit unwahrscheinlich. Chinas Verbraucherpreisindex liegt seit Mai 2012 bei um die 2 %, und der Erzeugerpreisindex des Landes hat sich für den größten Teil des letzten Jahrzehnts negativ entwickelt. Er rutschte im März 2012 in negatives Territorium und verharrte dort 54 Monate lang. Er war dann ab Juni 2019 für 16 der nächsten 17 Monate negativ. Und seit letztem Oktober verharrt er erneut in negativem Terrain.

Chinas BIP-Wachstumsrate ist derweil stetig gesunken. Sie fiel von 12,2 % im ersten Quartal 2010 auf 6 % im vierten Quartal 2019 und lag dann von 2020 bis 2022 bei durchschnittlich etwa 4,6 %. Angesichts dieser Kombination aus sich abschwächendem Wachstum und niedriger (oder sogar negativer) Inflation spricht viel für eine wachstumsstärkende expansive Fiskal- und Geldpolitik.

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Jedoch haben die chinesischen Behörden in Bezug auf das Wachstum des letzten Jahrzehnts einen vorsichtigen Ansatz verfolgt und die jährlichen Wachstumsziele jeweils ein paar Basispunkte unterhalb der tatsächlich erreichten Wachstumsrate des Vorjahres angesetzt. Die Regierung argumentiert, dass konservative Wachstumsziele ihr mehr Spielraum für Reformen lassen, um Chinas Wachstumsmuster zu verbessern und Qualität und Effizienz der wirtschaftlichen Entwicklung zu steigern. Doch ob Bemühungen zur Ankurbelung des BIP-Wachstums diese Anstrengungen tatsächlich behindern würden, ist diskussionswürdig.

Klar ist, dass Chinas Regierung entschlossen ist, die fiskalischen Ungleichgewichte zu begrenzen. Das bedeutet, das Volumen der ausgegebenen Staatsanleihen unter 60 % vom BIP und das Haushaltsdefizit – häufig deutlich – unter 3 % vom BIP zu halten. Während sich das Haushaltsdefizit 2009 auf 2,8 % vom BIP belief, wurde es 2011 auf 1,1 % gesenkt. Damals bemühte sich die Regierung, ihren Zyklus von Konjunkturimpulsen von vier Billiarden Yuan (520 Milliarden Euro) rasch zu beenden. Viele chinesische Ökonomen und Regierungsvertreter sind stolz darauf, bei der Befolgung der im Vertrag von Maastricht festgelegten Regeln bessere Arbeit geleistet zu haben als die meisten europäischen Länder. Zwar sind die Eventualverbindlichkeiten der chinesischen Regierung aufgrund der Verschuldung der Kommunen unbestreitbar hoch, doch ist Chinas Haushaltslage noch immer viel besser als die der meisten westlichen Länder.

Natürlich ist Chinas Haushaltsdefizit im Verhältnis zum BIP seit 2015 gestiegen. Doch war dies hauptsächlich durch Steuersenkungen bedingt und nicht durch höhere Staatsausgaben. Obwohl nur wenige westliche Beobachter dies eingestehen würden, ist die Angebotspolitik in China einflussreicher als in den USA.

Während die Regierung eine vorsichtige Fiskalpolitik verfolgt hat, hat die Chinesische Volksbank zu viele Ziele gleichzeitig verfolgt: Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, interne und externe Preisstabilität, Finanzstabilität und sogar Mittelzuweisung. Insbesondere musste sie auf die zyklischen Veränderungen beim Wohnungspreisindex reagieren: Wenn der Index steil steigt, zieht die Volksbank die geldpolitischen Zügel an. Allgemeiner hat sich die Volksbank darauf festgelegt, die Wirtschaft nicht „mit Liquidität zu fluten“, sondern stattdessen an einer Strategie der „präzisen Tröpfchenbewässerung“ festzuhalten.

China hätte mit einem aggressiveren makroökonomischen Ansatz in den letzten zehn Jahren unzweifelhaft ein höheres Wachstum erreichen können. Während es zu spät ist, die Vergangenheit zu ändern, kann China noch immer eine dynamischere Zukunft herbeiführen, aber nur, wenn es eine sorgfältig konzipierte expansive Fiskal- und Geldpolitik verfolgt, die sich auf eine Steigerung der effektiven Nachfrage und letztlich des Wachstums konzentriert.

Zum Glück besteht Grund zur Hoffnung, dass die chinesischen Politiker Schritte in diese Richtung unternehmen werden. Die Regierung hat die unzureichende Nachfrage kürzlich als eine zentrale makroökonomische Herausforderung für China identifiziert und erklärt, China solle die „sich verbessernde Dynamik nutzen, seine Politik verstärkt makroökonomisch anpassen und seine umsichtige Geldpolitik auf präzise und kraftvolle Weise umsetzen“.

Dies ist die vielleicht bedeutsamste Veränderung der makroökonomischen politischen Leitlinien Chinas der letzten Jahre. Wenn die chinesischen Behörden sie in effektive Maßnahmen umsetzen, wird die Folge ein stärkeres und stabileres Wachstum sein.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/i6IROBvde