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Neue Hoffnung für Indiens Demokratie

NEU-DELHI: Die Wähler haben die indische Demokratie vom Abgrund zurückgerissen. Zwar hat Premierminister Narendra Modi eine dritte Amtszeit in Folge erreicht. Doch hat es seine regierende Partei Bharatiya Janata (BJP) nicht geschafft, in der Lok Sabha (dem indischen Unterhaus) eine absolute Mehrheit der Sitze zu erreichen, und das wird Modi zwingen, sich bei seiner legislativen Agenda auf mehrere unberechenbare Verbündete zu stützen.

Zwar gab es landesweit Unterschiede bei den Wahlergebnissen, doch verlor die BJP mehrere wichtige Bundesstaaten – darunter Uttar Pradesh, das lange als Hochburg der Partei galt –, da Modis zunehmender Fokus auf einen extremen Hindu-Nationalismus und seine hasserfüllte Rhetorik bei den über binnenwirtschaftliche Fragen besorgten Wählern auf Ablehnung stieß.

Die Bedeutung dieses Wandels ist kaum zu überschätzen. Die BJP hält die nationale Macht seit Jahren im Würgegriff und nutzt ihre Kontrolle auf beispiellose und zutiefst undemokratische Weise. Dank eines undurchsichtigen Systems anonymer, vom Obersten Gerichtshof vor kurzem für verfassungswidrig erklärter Wahlanleihen, das die Korruption faktisch auf höchster Ebene institutionalisierte, verfügte sie über drei Mal so viel Geld wie alle übrigen Parteien zusammen.

Die BJP stützte sich zudem auf vordergründig unabhängige Strafverfolgungsbehörden, um die Oppositionsparteien zu unterdrücken, indem sie deren Bankkonten einfrieren ließ und drakonische Gesetze nutzte, um Abweichler, Kritiker und Oppositionsführer mit Strafen belegen und hinter Gitter zu bringen und andere zu zwingen, zur BJP überzuwechseln. Selbst die offiziellen Statistiken waren nicht vor politischer Einmischung und Manipulation sicher.

Zudem unterstützten die etablierten Medien Indiens die BJP, indem sie so taten, als sei Modis Weigerung, Pressekonferenzen abzuhalten, etwas Normales, und indem sie den Personenkult um den Premierminister verstärkten. Während unabhängige Journalisten bedroht und bestraft wurden, verbreiteten regierungsfreundliche Medien geschäftig BJP-freundliche Unwahrheiten und untergruben potenzielle politische Alternativen.

Obwohl die Wahl kaum als frei und fair gelten kann, hält sie mehrere Lehren parat. Zunächst einmal ist die Fähigkeit der Regierung, das Narrativ zu kontrollieren, innerhalb wie außerhalb des Landes eindeutig im Schwinden begriffen, da die Realität des heutigen Indiens zu düster ausfällt, als dass sie sich noch ignorieren ließe.

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Während heimische Eliten und außenstehende Beobachter sich BJP-Behauptungen über wirtschaftlichen Wohlstand zu eigen machten, hat von Indiens angeblichem Boom nur ein kleines Bevölkerungssegment profitiert. Die meisten Inder sehen sich schwindenden Berufsaussichten, stagnierenden oder sinkenden Reallöhnen und steil steigen Preisen für unverzichtbare Waren ausgesetzt. Meinungsumfragen zeigen, dass diese Probleme trotz der Versuche, sie durch spalterische Rhetorik abzulenken, bei den Wählern – und in jüngerer Zeit auch bei Wirtschaftsführern – obenan standen.

Auch die Grenzen der spalterischen politischen Agenda der BJP werden zunehmend deutlich. Während des gesamten Wahlkampfes heizten Modi und seine Partei offen die Ängste und Vorurteile der Hindus an und behaupteten, dass die oppositionelle Kongresspartei das Vermögen der Menschen beschlagnahmen und an „Eindringlinge“ und „Leute mit mehr Kindern“ – Code für Muslime – verteilen würde.

Es ist bemerkenswert, dass die meisten Wahlbezirke, wo derartige Reden geschwungen wurden, gegen die BJP stimmten. Die Partei verlor sogar in Ayodhya, wo sie kürzlich einen dem Gott Ram geweihten, am Standort einer 1992 von einem Hindu-Mob demolierten jahrhundertealten Moschee errichteten riesigen Tempel eingeweiht hatte.

Trotz seines Wahlsiegs ist Modis sorgfältig konstruierte Aura der Unbesiegbarkeit dahin. Sein Größenwahn – der sich in seiner Behauptung widerspiegelt, dass Gott ihn gesandt habe, um Indien zu dienen, und von Speichelleckern ermöglicht wurde, die jeden Fehler Modis als „Geniestreich“ bejubelten – hat ihn im Stich gelassen. Selbst in seinem eigenen Wahlkreis Varanasi schrumpfte sein Vorsprung bei der Wahl um fast zwei Drittel.

Es zeigt sich, dass die Verbreitung von Falschinformationen und Propaganda durch unterwürfige Nachrichtenmedien und Social-Media-Plattformen einen nur bis zu einem gewissen Grad voranbringen kann. Bis vor kurzem nutzte die BJP ihre Macht, um Fernsehsender, Radiosender und Printmedien zu kontrollieren, und ihre IT-Zelle dominierte die sozialen Medien mittels eines enormen Netzes von WhatsApp-Gruppen und „Armeen“ von Online-Trollen. Doch trotz dieser Bemühungen haben auf den digitalen Plattformen kritische Stimmen an Boden gewonnen. Unterstützt wurde dies durch unabhängige Medien, jüngere Blogger und YouTuber mit massiven Gefolgschaften.

Modis Regierung hat in den letzten Jahren versucht, die Kritik in den sozialen Medien zu unterdrücken, indem sie verlangte, dass digitale Plattformen ihr nicht genehme Inhalte löschen, und indem sie drakonische Gesetzesentwürfe für die digitalen Medien eingebracht hat. Doch nun, da die BJP ihre Mehrheit verloren hat, könnte ihre Fähigkeit, die Online-Kritiker zum Schweigen zu bringen, beeinträchtigt sein.

Die Auswirkungen des Wahlergebnisses reichen natürlich noch viel weiter. Die BJP muss sich nun auf Koalitionspartner stützen, was die Fähigkeit zum Verhandeln und zum Kompromiss erfordert – Fertigkeiten, für die Modi und sein Innenminister und enger Vertrauter Amit Shah nicht gerade bekannt sind. Darüber hinaus ist die Beziehung der BJP zu den anderen Parteien innerhalb der Nationalen Demokratischen Allianz von grundlegend transaktioneller Art, mit sehr wenig Vertrauen auf beiden Seiten aufgrund einer Geschichte früheren Verrats. Da seine Agenda nun von diesen Regionalparteien abhängt, müsste Modi einige von deren Anliegen und Forderungen berücksichtigen, was seinen Bemühungen, seine Macht zu konsolidieren, potenziell Grenzen setzt. Langfristig könnte dies der Anfang eines Prozesses zur Wiederherstellung eines echten, auf Zusammenarbeit gestützten Föderalismus sein.

Indiens eigene Wirtschaftsgeschichte widerlegt die Behauptung, dass eine Koalitionsregierung zwangsläufig schlecht für die Wirtschaft wäre. Koalitionen mögen instabiler sein, doch sie verschaffen zusätzlichen Stimmen Gehör, was sie demokratischer und inklusiver macht als die Einparteienherrschaft. Um Zentralisierung bedachte autoritäre Politiker andererseits machen mit größerer Wahrscheinlichkeit schwere Fehler; Modis katastrophale Geldentwertung des Jahres 2016 oder die unnachsichtigen COVID-19-Lockdowns, die beide ohne Rücksprache mit den Regierungen der Bundesstaaten oder anderen politischen Parteien durchgedrückt wurden, sind Beispiele dafür.

Womöglich werden die verschiedenen Institutionen, die den Forderungen der BJP nachgegeben haben, sich nun wieder auf ihre wahren Rollen und Verantwortlichkeiten besinnen und autonom agieren. Dies schließt die von der BJP gründlich instrumentalisierten Strafverfolgungs- und Steuerbehörden mit ein, und auch die Justiz und die etablierten Medien. Womöglich führt dieser Wandel sogar zu einer Regierung, die gezwungen ist, die vielen echten Probleme in Angriff zu nehmen, die Indiens Wirtschaft und Gesellschaft plagen, statt sich auf Propaganda zu stützen und Zwietracht zu säen.

Noch allerdings ist Indiens Demokratie nicht gerettet. Das Gift des religiösen Hasses zu bekämpfen, den die BJP in die indische Gesellschaft hineingetragen hat, könnte lange dauern. In ähnlicher Weise können die durch Modis autoritäre Taktiken beschädigten Behörden und Institutionen nicht so leicht wieder auf vollständige Autonomie umschalten. Und der Missbrauch von Rechts-, Regulierungs- und Verwaltungsverfahren könnte sich angesichts Modis zunehmend gefährdeter Herrschaft fortsetzen und sogar verstärken.

Trotzdem herrscht in der indischen Politik nun wieder (ein allerdings chaotischer) Wettbewerb. Hunderte von Millionen Inder haben Grund, sich erleichtert zu fühlen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/KXUb1Xnde