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Amerikas Pflichtverteidiger in der Krise

STANFORD: Das System der Pflichtverteidiger in den USA leidet unter Unterfinanzierung, überbordender Arbeitsbelastung und tief verwurzelten Ungleichheiten. Den Pflichtverteidigern, die Hunderte von Fällen zu bearbeiten haben, fehlen oft die Zeit und die Mittel, um ihre Mandanten in der gebotenen Qualität zu vertreten. Dies führt zu einem Rechtssystem, in dem die Qualität der Strafverteidigung von den finanziellen Möglichkeiten abhängt, und untergräbt das Grundprinzip gleichen Rechts für alle.

Auch wenn viele Amerikaner glauben, dass sie nie Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen sein werden, so wird doch jeder Dritte im Laufe seines Lebens irgendwann strafrechtlich verurteilt werden, und jeder Dritte im Alter von 23 Jahren wurde bereits einmal verhaftet. Im Falle einer Verhaftung ist ein kompetenter Verteidiger von entscheidender Bedeutung, um die Rechte des Angeklagten inmitten der Komplexität des Strafrechtssystems zu schützen. Die meisten Menschen, die einer Straftat angeklagt werden, werden von Pflichtverteidigern vertreten, die auf Ebene der Einzelstaaten 60-80 % und auf Bundesebene fast 90 % der schweren Straftaten bearbeiten.

Das Recht auf einen Rechtsbeistand ist im sechsten Zusatzartikel der US-Verfassung verankert. Das System der Pflichtverteidiger wurde jedoch erst 1963 eingeführt, als der Oberste Gerichtshof entschied, dass alle Angeklagten unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten Anspruch auf einen Rechtsbeistand haben. Dieses Recht wurde 1984 durch die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Strickland v. Washington bekräftigt, in der der Standard für eine kompetente Vertretung festgelegt wurde. Laut der American Bar Association müssen Anwälte über „die rechtlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die Gründlichkeit und die Vorbereitung“ verfügen, die für eine wirksame rechtliche Vertretung erforderlich sind.

Doch trotz dieser rechtlichen Standards stehen die Pflichtverteidiger in den USA unter enormem Druck. Drei Viertel von ihnen sind einer Arbeitsbelastung ausgesetzt, die weit über die durch die Berufsstandards gesetzten Grenzen hinausgeht. Diese empfehlen pro Jahr eine Höchstzahl von 150 Fällen, bei denen es um schwere, und 400 Fällen, bei denen es um mindere Straftaten geht. Basierend auf einer 40-Stunden-Woche erlauben diese Obergrenzen etwa 13,9 Stunden pro Fall bei schweren und 5,2 Stunden pro Fall bei minderen Straftaten.

Die Rand Corporation hat diese Richtwerte kürzlich aktualisiert und empfiehlt 286 Stunden für schwere Straftaten wie Morde, die bei denen Angeklagten eine lebenslängliche Haftstrafe ohne Bewährung droht, und 248 Stunden pro Fall für minderschwere Tötungsdelikte. Gemäß diesen Richtlinien könnte ein Pflichtverteidiger, der ausschließlich Tötungsdelikte bearbeitet, in denen den Angeklagten keine lebenslange Haftstrafe droht, nur acht Fälle pro Jahr übernehmen.

Das Beispiel Harris County (Texas) unterstreicht die Dringlichkeit der Krise. Das dortige Pflichtverteidigerbüro hat uns Daten übermittelt, aus denen hervorgeht, dass es 6540 aktive Strafsachen bearbeitet, wobei allein im Jahr 2024 3789 neue Fälle dazukamen. Darunter sind 41 Fälle, in denen den Angeklagten die Todesstrafe droht und die 11.726 Stunden juristischer Arbeit erfordern, 175 Fälle von Tötungsdelikten, in denen keine Todesstrafe droht und die 43.400 Stunden in Anspruch nehmen, und 368 Fälle von Sexualstraftaten, die 61.456 Stunden erfordern.

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Mit nur 82 Pflichtverteidigern beläuft sich die jährliche Gesamtkapazität des Büros in Harris County auf 191.360 Stunden. Allein für die 4052 Fälle minderschwerer Straftaten werden 82.336 Stunden juristischer Arbeit benötigt, was ein Defizit von 7.558 Stunden bedeutet, und dabei sind Krankheitstage, gesetzliche Feiertage, Sonder- und Regelurlaub noch gar nicht berücksichtigt. Trotz steigender Belastung des ohnehin schon überlasteten Systems zögern die politischen Entscheidungsträger weiterhin, die Mittel aufzustocken.

Übermäßige Arbeitsbelastung untergräbt die Qualität der Verteidigung erheblich. Eine aktuelle Untersuchung von Aviv Caspi zeigt, dass überlastete Pflichtverteidiger weniger effektiv sind. Er fand einen direkten Zusammenhang zwischen steigender Arbeitsbelastung und härteren Urteilen für verurteilte Mandanten. Demnach werden Mandanten von Pflichtverteidigern im 25. Perzentil der Fallzahlen zu fast doppelt so langen Strafen verurteilt wie Angeklagte, die von Verteidigern im 75. Perzentil vertreten werden. Auch eine Studie aus dem Jahr 2020 zeigt, dass eine höhere Arbeitsbelastung der Pflichtverteidiger die Wahrscheinlichkeit von Untersuchungshaft erhöht und zu längeren Haftstrafen führt.

In Anbetracht dieser Herausforderungen betrachten wir in unserer eigenen Untersuchung einen alternativen Ansatz, der das System verändern könnte. Das Modell der kooperativen Verteidigung, das in den letzten Jahren in akademischen und politischen Kreisen an Unterstützung gewonnen hat, führt das Konzept der sogenannten „Client Advocates“ ein, die einerseits quasi als Übersetzer dienen (die den Mandanten helfen, die rechtlichen Verfahren und Anforderungen zu verstehen) und andererseits als eine Art Lotsen fungieren, welche die Angeklagten mit den Diensten in Kontakt bringen, die sich den Ursachen ihrer rechtlichen Probleme widmen.

Partners for Justice, unser Kooperationspartner bei unserer Untersuchung, hat Pionierarbeit beim Modell der kooperativen Verteidigung geleistet, indem es Client Advocates ausgebildet und an 23 Pflichtverteidigerbüros im ganzen Land vermittelt hat. Diese Client Advocates sind zwar keine Anwälte oder Sozialarbeiter, spielen aber eine wichtige Rolle, indem sie den Mandanten bei der Vorbereitung auf das Gerichtsverfahren helfen und für sie den Kontakt zu sozialen Diensten herstellen.

Obwohl bisher nur begrenzte Belege zur Wirkung des Modells der kooperativen Verteidigung vorliegen, wurden ähnliche Ansätze in New York bereits wissenschaftlich untersucht. Eine dieser Untersuchungen ergab, dass durch die Einführung ganzheitlicher Strafverteidigungsdienste in der Bronx die Zahl der Haftstrafen um 16 % und die erwarteten Haftdauern um fast 25 % gesenkt werden konnten. Die Zahl der Hafttage verringerte sich dadurch innerhalb von zehn Jahren um 1,1 Millionen, ohne die öffentliche Sicherheit zu gefährden. Beim Start des Programms im Jahr 2000 lag die Rate der Gewaltverbrechen in der Bronx bei 1297 pro 100.000 Einwohner. Bei Abschluss der Studie im Jahr 2014 war sie um 32 % auf 883 Gewaltverbrechen pro 100.000 Einwohner gesunken.

Natürlich wird die kooperative Verteidigung für sich genommen die Fallzahlen nicht verringern. Doch würde die Einführung dieses Modells es den Pflichtverteidigern ermöglichen, mehr interdisziplinäres Personal einzustellen, so dass sie wichtige, aber zeitaufwändige Aufgaben an ein Team delegieren könnten, das besser in der Lage ist, das gesamte Spektrum der Bedürfnisse der Mandanten zu erfüllen. Darüber hinaus könnte das Modell, indem es für die Mandanten den Kontakt zu Gesundheitsdiensten und Wirtschaftsservices herstellt, dazu beitragen, dass die Regierungen den Wert von Pflichtverteidigerbüros erkennen, was zu einer Aufstockung der Mittel, einer Erweiterung des Personalbestands und einer Verringerung der Fallzahlen führen würde.

Unsere Untersuchung befindet sich noch im Anfangsstadium. Doch wenn das Beispiel der Bronx aussagekräftig ist, könnte das Modell der kooperativen Verteidigung die Strafverteidigung durch Pflichtverteidiger in den USA revolutionieren. Dort, wo es praktiziert wird, ist seine transformative Wirkung bereits greifbare Realität.

Jedoch ist die kollaborative Verteidigung mehr als nur ein Modell; sie ist eine Bewegung hin zu echter Gerechtigkeit, die sicherstellt, dass alle Angeklagten den Rechtsbeistand erhalten, den sie verdienen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass dies dazu beitragen könnte, das US-Strafrechtssystem näher an das heranzuführen, was der verstorbene Richter am Obersten Gerichtshof Hugo Black als das „noble Ideal ... fairer Prozesse vor unparteiischen Gerichten, wo jeder Angeklagte vor dem Gesetz gleich ist“ bezeichnet hat.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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