nye263_JOSEPH PREZIOSOAFP via Getty Images_harvard protest JOSEPH PREZIOSO/AFP via Getty Images

Politischer Protest und die Hochschulen

CAMBRIDGE, MASS. – Obwohl der Krieg in Gaza noch nicht beendet ist, hat er bereits weitreichende Auswirkungen auf die amerikanischen Hochschulen. Nach den grausamen Angriffen der Hamas auf die Zivilbevölkerung herrschte an den meisten Hochschulen zunächst Sympathie für Israel. Doch als die Zeit verging und sich die Bilder des Krieges häuften, begannen viele junge Menschen, gegen die ihrer Meinung nach zu hohe Zahl von Todesopfern unter der Zivilbevölkerung in Gaza zu protestieren. Es kam zu einer tiefen Spaltung der Hochschulen, als pro-palästinensische Studenten forderten, die Hochschulen sollten ihre Beteiligungen an Unternehmen abstoßen, die mit Israel zusammenarbeiten, und als pro-israelische Studenten argumentierten, dass ein feindseliges Umfeld ihre Sicherheit und ihr Streben nach einer Ausbildung bedrohe.

Universitätspräsidenten und -vorstände taten sich schwer, hierauf die richtige Antwort zu finden, und viele hochrangige Verwaltungsmitarbeiter traten nach den Kongressanhörungen zu diesem Thema im Frühjahr zurück, auch an meiner eigenen Universität. Nach Aussage des neuen Präsidenten von Harvard wird die Universität keine offiziellen Erklärungen mehr zu öffentlichen Angelegenheiten abgeben, es sei denn, sie bedrohen die akademische Freiheit unmittelbar oder beeinträchtigen die Kernaufgaben der Institution, nämlich Lehre und Forschung. Ist dies die richtige Antwort?

Die Regel ist neu, aber das Problem ist es nicht. Während des Vietnamkriegs war es noch schlimmer. Während die diesjährigen Zeltlager und Proteste gegen den Gaza-Krieg oft gegen die seit langem bestehende Erklärung der Rechte und Pflichten von Harvard bezüglich Zeiten, Orten und Art der Proteste verstießen, waren die aktuellen Proteste im Vergleich zu den 1960er Jahren relativ zahm.

Wie ich in meiner Autobiografie A Life in the American Century erzähle, befand sich mein Büro in den 1960er Jahren im Center for international Affairs (CFIA). Unser Gebäude wurde mehrfach besetzt und war einem Bombenanschlag und einem Überfall ausgesetzt, in dessen Folge ein Mitarbeiter ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Um ein radikales Weather Underground-Pamphlet vom November 1969 zu zitieren, das ich aufbewahrt habe: „Die Leute, die die CFIA leiten, sind gedungene Mörder. Sie schreiben Berichte für die Regierung darüber, wie einige wenige Amerikaner reich und fett bleiben können. Professoren, die der Regierung helfen, sind Schweine. Gibt es nicht ein Schwein, das du gern drankriegen würdest?“ Unsere Angreifer prahlten damit, in Gebäude einzubrechen, die „Schweine“ die Treppe hinunterzustoßen und Fenster zu zerschlagen. Die heutigen störenden Zeltlager kommen dem bei weitem nicht nahe.

Gewalt ist nicht das einzige Problem. Die freie Meinungsäußerung ist für eine Universität unerlässlich, und Proteste, die die angemessenen Grenzen hinsichtlich Zeit, Ort und Art respektieren, sollten sowohl erwartet als auch toleriert werden. Doch sollten die Proteste von Einzelnen oder Gruppen durchgeführt werden; sie sollten sich nicht auf die Institution berufen.

Die Rolle der Universität war bereits in den 1960er Jahren umstritten, und zwar nicht nur unter den Studenten. Bei einem Abendessen mit einer kleinen Anzahl von Fakultätskollegen argumentierte ich damals, dass unsere demokratischen Gesellschaften ärmer wären, wenn die wissenschaftlich Tätigen ihre Suche nach Wahrheit entwürdigen würden und die Hochschulen zu lediglich einer weiteren Pressure-Group würden. Einige meiner Kollegen waren anderer Meinung und argumentierten, dass die Institution verpflichtet sei, sich von einer unmoralischen Regierungspolitik wie dem Vietnamkrieg öffentlich zu distanzieren. In einem weiteren Vorspiel zur Situation heute wiesen sie darauf hin, dass die Stiftungen der Hochschulen Unternehmen unterstützten, die Kriegsausrüstung herstellten.

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Später plädierten die Demonstranten für Desinvestitionen in Bezug auf andere Themen wie die Apartheid in Südafrika, den Klimawandel und jetzt Israel. Wenn Ökonomen darauf hinweisen, dass solche Aktionen nur geringe wirtschaftliche Auswirkungen haben (weil schnell jemand anderes die zu veräußernden Aktien kauft), entgegnen die Befürworter, dass es auf die politische Botschaft ankomme, nämlich die Benennung und Beschämung. Desinvestitionen seien ein institutionelles Statement, das eine größere Wirkung hat als jede von einzelnen Mitgliedern der Universitätsgemeinschaft unternommene Anstrengung.

Das Problem ist, dass die Kosten für die Universität viel höher sind als der Nutzen für die Sache, für die sie sich einsetzt. Weitaus stärkere politische Pressure-Groups dürften den politischen Einfluss der ihre Beteiligungen veräußernden Hochschulen überwiegen, denen zudem Kosten nicht nur für ihre akademische Freiheit und Unabhängigkeit, sondern auch für ihre interne Gemeinschaft entstünden. In einem kürzlich erschienenen Bericht der Harvard-Arbeitsgruppe „Institutional Voice“ heißt es: „Da wenn überhaupt nur wenige Weltereignisse völlig von gegensätzlichen Standpunkten losgelöst werden können, besteht bei der Abgabe offizieller Empathieerklärungen die Gefahr, dass sich einige Mitglieder der Gemeinschaft entfremden, weil diese Erklärungen implizit die Solidarität mit anderen zum Ausdruck bringen“. Entsprechend lehnte Harvard kürzlich Forderungen ab, seine Beteiligungen an in Israel tätigen Unternehmen zu veräußern.

Zurückhaltung bei politischen Erklärungen ist nur ein Teil der Lösung. Ebenso wichtig ist die Durchsetzung der bestehenden Regeln. Es ist für eine Hochschulverwaltung sowohl taktisch als auch moralisch problematisch, sich dabei auf die Polizei zu stützen. Dies war im vergangenen Jahr in vielen Hochschulen ein Spannungspunkt. Harvard machte 1969 einen Fehler, als es die Staatspolizei einschaltete (die überreagierte). Die bleibende Lehre für heute ist, dass derartige Maßnahmen das letzte Mittel sein sollten.

Wenn jedoch die universitären Regeln, die Zeit, Ort und Art der freien Meinungsäußerung (einschließlich von Protest) regeln, nicht durchgesetzt werden, kann die Institution ihren Kernzweck der Lehre und Forschung nicht mehr aufrechterhalten. Darüber hinaus gefährdet die Straffreiheit für Regelverstöße den vernünftigen Austausch gegensätzlicher Ansichten und reduziert den Diskurs auf einen Wettbewerb, wer am meisten Druck ausüben kann. Wenn die Demonstranten entgegnen, dass sie absichtlich gegen die Regeln verstoßen, um ihre Sache zu dramatisieren und ihre Botschaft zu verstärken, sollten sie sich an die Aussage von Martin Luther King erinnern, dass ziviler Ungehorsam nur dann moralisch überzeugend ist, wenn man bereit ist, die Strafe dafür in Kauf zu nehmen. Auch das ist Teil der Bildung.

Natürlich können die Hochschulen nicht in allen politischen Fragen völlig neutral sein. Aber sie sollten ihr institutionelles Feuer auf Fälle beschränken, die eine direkte und erhebliche Auswirkung auf ihre Kernaufgaben Lehre und Forschung und die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Arbeit haben. In der gegenwärtigen Situation bedeutet akademische Freiheit, dass sowohl pro-israelische als auch pro-palästinensische Stimmen gehört werden müssen und dass die Hochschulen sich gegen die Einschüchterung durch Kongressausschüsse und Geldgeber wehren müssen, die mit dem Entzug der finanziellen Unterstützung drohen. Aus den 1960er Jahren können wir viel über die Bedeutung des Protests und seine Grenzen sowie über die angemessene institutionelle Rolle der Hochschulen lernen. Hoffen wir, dass wir es in den 2020er Jahren besser machen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/YynB38pde