merler1_ArturWidakNurPhotoviaGettyImages_polandEUwalk Artur Widak/NurPhoto via Getty Images

Hört Europas schweigende Mehrheit

BRÜSSEL – Nur wenige Tage vor den Wahlen zum Europäischen Parlament bietet es sich an darüber nachzudenken, warum sich Europäerinnen und Europäer überhaupt zu einer politischen und wirtschaftlichen Union zusammengeschlossen haben. Und es obliegt den Kandidaten zu erkennen, was die Wähler heute von der Europäischen Union wollen.

Aufstrebende populistische Parteien haben ein negatives Bild von der EU gezeichnet und behauptet, sie sei Teil des Problems und nicht die Lösung. Eurobarometer-Daten zeigen jedoch, dass der Anteil der Europäer, die sich der EU „einigermaßen“ oder „sehr“ verbunden fühlen, von 46% im Jahr 2014 auf 56% im Jahr 2018 gestiegen ist. Und wenn es um die Zukunft geht, ist die Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft bei den jüngeren Wählern am stärksten; von den 18- bis 29-Jährigen stehen 73% der EU positiv gegenüber, verglichen mit 58% in der Altersgruppe der 50-Jährigen und Älteren. Darüber hinaus sind diese Pro-EU-Trends auch in Ländern mit europaskeptischen Regierungen erkennbar, darunter Ungarn und Italien.

Im November 2018 gaben 68% aller von Eurobarometer befragten Europäer zudem an, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat, und nur 30% waren der Meinung, dass es ihrem Land außerhalb der EU besser gehen würde. Zum Vergleich würde rund ein Viertel (26%) der Texaner eine Abspaltung von den Vereinigten Staaten unterstützen, obwohl die USA seit über 173 Jahren föderal organisiert sind.

Was ist mit der populistischen Behauptung, dass die Europäer „die Kontrolle zurückerlangen“ wollen? Tatsächlich wünschen sich 60-80% der Europäer mehr Entscheidungsfindung auf EU-Ebene, wenn es um den Schutz der Umwelt, Investitionen in Arbeitsplätze, Terrorismusbekämpfung, die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, die Wahrung der Demokratie und um Gesundheits- und Sozialversicherungsfragen geht.

Darüber hinaus befürworten 65% eine gemeinsame Außenpolitik, 69 % unterstützen eine gemeinsame EU-Migrationspolitik, 74% wollen eine gemeinsame Energiepolitik und 76 % würden eine gemeinsame Verteidigungspolitik unterstützen. Dieses Maß an Unterstützung für mehr Entscheidungsfindung auf EU-Ebene im Bereich Verteidigung ist besonders bemerkenswert, da diese seit langem Kernelement der nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten ist. Anfang der 90er Jahre waren die Befürworter und Gegner in dieser Frage gleichmäßig verteilt.

Wachsende Unterstützung für Maßnahmen auf EU-Ebene bedeutet gewiss nicht, dass es einfach sein wird Einigung in diesen Fragen zu erzielen. Aber sie deutet darauf hin, dass sich bei den Bürgern die Erkenntnis durchsetzt, dass integrierte Entscheidungsstrukturen besser sind als unkoordinierte nationale Initiativen, wenn es darum geht, die komplexen Probleme der Gegenwart anzugehen.

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Darüber hinaus sind die Politikbereiche, die für europäische Wählerinnen und Wähler von größter Bedeutung sind – wie Migration oder die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – genau diejenigen, in denen es der EU nicht gelungen ist, eine kohärente Antwort zu finden, was das europaskeptische Narrativ verstärkt hat. Wenn die nationalen Regierungen die EU in diesen Fragen die Führung übernehmen ließen, würden die Europäer sehen, dass sie eine wichtige Rolle zu spielen hat, und der Euroskeptizismus würde weiter in Ungnade fallen.

Um einen solchen positiven Kreislauf in Gang zu setzen, sollte die EU mehr Mittel für Maßnahmen und Programme bereitstellen, die eine direkte Verbindung zu den Bürgern herstellen. Dies würde dazu beitragen, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass weniger als 50% der Europäer das Gefühl haben, dass ihre Stimme „zählt“, auch wenn die meisten die EU eigentlich nicht als undemokratisch wahrnehmen. Ein funktionierender Binnenmarkt, ein hochmodernes Satellitensystem und ein weltweit bewunderter Europäischer Forschungsrat sind zweifellos wichtige Errungenschaften, doch sie sind dem durchschnittlichen EU-Bürger eher fern. Wenn Europäer erklären, wie die EU ihnen persönlich geholfen hat, stehen hingegen

alltägliche Belange wie kostenloses Mobilfunk-Roaming und Initiativen wie das Erasmus-Studentenaustauschprogramm im Vordergrund.

Ein weiterer Bereich, in dem die EU als äußerst effektiv wahrgenommen wird, ist die Wettbewerbspolitik, was auf ihren klar definierten Auftrag und Aufgabenbereich zurückzuführen ist. Durch eine klare Zuweisung von Kompetenzen in anderen Bereichen, in denen die Europäer ein stärker abgestimmtes Vorgehen unterstützen, könnte die EU sowohl ihre Wirksamkeit als auch ihr Bild in der Öffentlichkeit verbessern.

Der gängige Einwand gegen eine weitere Zentralisierung ist, dass eine „politische Union“ erforderlich wäre, die keine Chance hat, in naher Zukunft Wirklichkeit zu werden. Aber es gibt Anzeichen für eine wachsende Unterstützung einer tieferen politischen Integration. So haben viele Europäer im Zuge der Eurokrise erkennen müssen, dass das, was in einem Land passiert, alle betreffen kann. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass die Politik in Brüssel erheblichen Einfluss auf Themen wie Datenschutz, Urheberrecht, Migration, Klimawandel und den Fortbestand des Euro haben kann.

Infolgedessen kandidieren erstmals seit 1979 transnationale Parteien wie DiEM25 und Volt bei den Europawahlen mit EU-weiten Programmen, anstatt auf nationalen Plattformen. Und es entstehen überall neue EU-orientierte Basisbewegungen. Wer nicht im Vereinigten Königreich lebt, mag es vielleicht nicht bemerkt haben, aber vor dem Brexit wäre der inzwischen gewohnte Anblick von EU-Flaggen, die vor Westminster geschwenkt werden, unvorstellbar gewesen.

Diese im Anfangsstadium befindliche aktive Auseinandersetzung mit der EU aus der Zivilgesellschaft heraus sollte wertgeschätzt und kultiviert werden, denn sie bietet ein unschätzbar wertvolles Instrument, um die Kluft zwischen den EU-Institutionen und den Bürgern zu überbrücken, die häufig das Gefühl haben keine Stimme zu besitzen.

Selbstverständlich werden verschiedene nationale Regierungen unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie in den oben genannten Politikbereichen vorzugehen ist. Aber diese Meinungsverschiedenheiten müssen kein Hindernis für eine stärkere Integration darstellen. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass eine Vielfalt an Hintergründen und Perspektiven innerhalb einer Organisation eine Quelle der Stärke ist, auch wenn diese mit hitzigen Diskussionen und temperamentvoller Rhetorik einhergeht. Schließlich lautet das Motto der EU nach wie vor „In Vielfalt geeint“. Und wie die Daten deutlich machen, wollen die meisten Europäer nach wie vor eine „immer engere Union“.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

https://prosyn.org/a42GnNdde