rpersaud19_Christopher FurlongGetty Images_lucyletby Christopher Furlong/Getty Images

Warum werden Helfer zu Mördern?

LONDON – Die kürzlich wegen der Ermordung von sieben Babys und des Mordversuchs an sechs weiteren verurteilte Kinderkrankenschwester Lucy Letby, die zwischen Juni 2015 und Juni 2016 im Countess of Chester Hospital tätig war, hat mit ihren grausamen Taten die wohl größte Kindermordserie im Vereinigten Königreich verübt. Während des zehnmonatigen Prozesses gegen Letby, der als der längste Mordprozess in der Geschichte des Vereinigten Königreichs gilt, schilderte die Staatsanwaltschaft ausführlich, wie sie den ihr anvertrauten Säuglingen Schaden zufügte, indem sie ihnen Luft und Insulin in die Blutbahn spritzte, Luft in ihren Bauch einleitete und ihre Beatmungsschläuche entfernte.

Was bewegt eine Krankenschwester oder einen Krankenpfleger – Betreuer von Beruf – dazu, so schreckliches Leid zuzufügen? Selbst nachdem sie über den Prozess berichtet und Monate in Letbys Gegenwart verbracht hatte, fiel es der BBC-Journalistin Judith Moritz schwer, ihre Beweggründe zu verstehen. Eine Textnachricht deutet auf einen möglichen Gott-Komplex hin: „...manchmal denke ich, wie können so kranke Babys durchkommen & andere einfach so plötzlich & unerwartet sterben?“ schrieb Letby. „Ich schätze, es soll so sein.“ Für Moritz ist dies jedoch keine befriedigende Antwort.

Eine Untersuchung ähnlicher Fälle könnte Aufschluss über Letbys psychische Verfassung geben. Pflegekräfte, die Serienmorde begehen, kommen häufiger vor, als viele glauben wollen. Nehmen wir Niels Högel, der zugab, zwischen 2000 und 2005 als Krankenpfleger in zwei Kliniken in den norddeutschen Städten Oldenburg und Delmenhorst 43 Menschen ermordet zu haben.

Högel, der die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte verübt hat, verkörpert den Ernst der Gefahr, die von einem gestörten Angehörigen eines Gesundheitsberufes ausgeht. Die Behörden vermuten, dass bis zu 300 Patienten durch seine Hand gestorben sein könnten.

Wie ein Psychologe während des Prozesses erklärte, schien Högel weder Spaß am Töten zu haben, noch tat er es aus finanziellen Gründen. Vielmehr gab Högel zu, aus Langeweile gehandelt zu haben, aber auch aus dem tiefen Bedürfnis heraus, sich mit seinen besonderen Fähigkeiten bei der Reanimation zu profilieren. Nachdem er medizinisch nicht indizierte Medikamente verabreicht hatte, die zum Herzstillstand führten, war die Wiederbelebung eines Patienten ein Akt der Selbstüberhöhung – von bewundernden Kollegen bekam er sogar den Spitznamen „Rettungs-Rambo“.

In seinem Urteil zitierte der Richter die Einschätzung eines Psychologen, wonach der ehemalige Krankenpfleger ein Narzisst ist, der sich gerne als Held darstellt. Während Högel die Aufregung der Wiederbelebung genoss und es manchmal sogar schaffte, Patienten zu reanimieren, starben mindestens 87 von ihnen. Auch als Letby Dienst hatte, mussten Säuglinge im Countess of Chester Hospital oft aus unerklärlichen Gründen wiederbelebt werden.

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Pflegekräfte, die morden, verwenden in der Regel injizierbare Medikamente wie Insulin, Opioide und Kaliumchlorid, da diese nach dem Tod schwer nachzuweisen sind, wie die meisten Angehörigen der Gesundheitsberufe wissen. Beverley Allitt etwa ermordete zwischen Februar und April 1991 als Krankenschwester im Grantham and Kesteven Hospital in Lincolnshire, England, mindestens zwei Babys, indem sie ihnen hohe Dosen Insulin verabreichte. Sie wurde letzten Endes des Mordes an insgesamt vier Säuglingen, des versuchten Mordes an drei weiteren und der schweren Körperverletzung an sechs weiteren Babys schuldig gesprochen.

Eine Theorie, die im Fall Allitt angeführt wurde, besagt, dass sie unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt, einer seltenen und umstrittenen Diagnose, bei der eine Pflegeperson einem Kind Schaden zufügt, um selbst Mitgefühl zu erhalten. Diese Erklärung ähnelt einem der möglichen Beweggründe, die die Staatsanwaltschaft im Fall Letby anführte: Die Krankenschwester griff Babys an, um die Aufmerksamkeit eines Arztes zu erregen, in den sie sich angeblich verliebt hatte.

Insulininjektionen waren auch die bevorzugte Tatwaffe der Krankenschwester Elizabeth Wettlaufer aus Ontario. Im September 2016 gestand Wettlaufer, acht Bewohner eines Pflegeheims getötet und versucht zu haben, sechs weitere zu ermorden. Wettlaufers Verbrechen kamen erst ans Licht, als sie während einer Drogentherapie ein spontanes Geständnis ablegte. Ein Verdacht war nie aufgekommen, und das wäre wahrscheinlich auch so geblieben, wenn sie sich nicht selbst bezichtigt hätte.

Wettlaufer könnte zudem einem Freund aus Kindertagen die Wahrheit gestanden haben, dem sie mitteilte: „Vieles von dem, was ich getan habe, wurde durch meine Probleme mit Aggressionen ausgelöst.“ Aber wie kann das Töten von Menschen, die einem anvertraut sind, zu einem Mittel werden, Aggressionen auszuleben? Wer hat nicht schon einmal Mordgedanken gegenüber nervigen Kollegen gehegt, oder vielleicht auch Patienten, denen es nicht zusteht eines der kostbaren Betten in der unterfinanzierten Einrichtung zu blockieren, die man zu leiten versucht?

Durch die Art ihrer Arbeit waren diese Angehörigen medizinischer Berufe dem Tod näher als die meisten Menschen; die alltägliche Konfrontation mit dem Sterben könnte ihre Sichtweise verzerrt haben. Vielleicht fühlten sie sich aber auch schon immer von der emotionalen Intensität und dem verstärkten Zusammenhalt angezogen, die in jedem Team entstehen, das mit entscheidenden Krisen konfrontiert wird. Psychologische Untersuchungen sind bei Einstellungen im Bereich der medizinischen Versorgung zweitrangig gegenüber fachlichen Fähigkeiten, und alle diese Pflegekräfte, die in Serie gemordet haben, schienen fachlich überragend zu sein. Auf eine pathologische Auffälligkeit, von der Gefahr ausgehen könnte, wäre jedenfalls wahrscheinlich nicht hingewiesen worden, da es oft schwierig ist, auch nur Personal mit medizinischer Grundkompetenz zu finden.

Keiner der Experten, die während des Letby-Prozesses aussagten, präsentierte eine kohärente Theorie, die ihre Beweggründe erklärt. Vielleicht wollen sogar erfahrene Kliniker immer noch nicht wahrhaben, dass es Dämonen in ihrer Mitte gibt. Auch wenn andere „Todesengel“ Anhaltspunkte geben können, wie es zu solch üblen Taten kommen kann, ist die beunruhigendste Folgerung aus der Erklärung mit einem „Gott-Komplex“, dass der nächste „Engel“ eher unter den besseren oder sogar den besten Pflegekräften zu finden sein wird. Und es wird immer gegen die eigene Intuition sein, einen Mörder unter den Helfern zu suchen, auf die man im Notfall am meisten angewiesen ist.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/myHIslSde