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Die neue europäische Front

LONDON – Für viele Europäer war der Sommer 2022 einer der schlimmsten ihres Lebens, und dies nicht nur wegen des grausamen Kriegs an ihrer Ostgrenze oder der Rückkehr der Inflation. Langfristig noch wichtiger war die öffentliche Erkenntnis, dass der Kontinent viel empfindlicher auf veränderte Umweltbedingungen reagiert als erwartet. Nach dem wärmsten Winter seit Beginn der Aufzeichnungen muss sich Europa auf weitere klimatische Turbulenzen einstellen – von erheblich höheren Temperaturen bis hin zu volatilen Wasserressourcen, von denen das europäische Projekt politisch massiv herausgefordert wird.

Außerdem verschleiern die Europäer seit Jahrzehnten die zutiefst politische Natur der europäischen Integration – hinter einem wirtschaftlichen Projekt, das sich auf den freien Fluss von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen zwischen den Mitgliedstaaten konzentriert. Bisher hat dBisher hat dies funktioniert, weil sich der Gemeinsame Markt hinsichtlich seiner materiellen Sicherheit auf ein enormes Vermächtnis an Infrastruktur und Institutionen verlassen konnte. Waren können problemlos über den Kontinent reisen, da die Straßen weitgehend frei von Überschwemmungen sind. Dank jahrhundertelanger Landkultivierung und sanfter Regenfälle können europäische Bauern Nahrungsmittel anbauen. Finanzzentren können im Rhythmus der Kapitalmärkte arbeiten, weil ihre Angestellten auf dem Weg zur Arbeit nicht durch Flüsse waten müssen – oder stundenlang Eimer tragen, um Wasser für ihre Familien zu beschaffen.

Die Infrastruktur und die Institutionen, die in Europa dafür sorgen, dass wir mit dem Klima so gut zurechtkommen, wurden durch das Erbe kolonialer Ressourcen finanziert – und danach durch den Marshallplan, die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie die Finanzministerien der Mitgliedstaaten. Sie alle haben dazu beigetragen, die Legitimität der modernen europäischen Staaten aufzubauen.

Aber der vergangene Sommer und der darauf folgende außergewöhnliche Winter liefern genug Beweise für den steten Niedergang von Europas einst vorteilhafter menschlicher Geographie – und dafür, dass die vom Menschen gestaltete Landschaft, die präzise an frühere Klimabedingungen angepasst ist, ihren Zweck nicht mehr erfüllt. 2022 wurden Spanien, Griechenland und Italien von Dürren heimgesucht. Mitteleuropäische Flüsse – jahrhundertealte Transportwege für Waren auf dem Weg ins Herz des Kontinents – trockneten aus. Dann sorgten überdurchschnittliche Meerestemperaturen im Mittelmeerraum dafür, dass der Kontinent von monsunartigen Regenfällen überschwemmt wurde. Der Oktober war der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen, ebenso wie der Dezember. Und da sich die Bedingungen immer schneller ändern, wird dies wahrscheinlich zur neuen Normalität.

Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, will Mittel bereitstellen, um den Übergang zu einer grünen Wirtschaft zu beschleunigen – als Reaktion auf US-Präsident Joe Bidens Inflation Reduction Act. Aber trotz der immer radikaleren Umweltveränderungen werden dabei Europas Fähigkeit, physischen Veränderungen zu begegnen, kaum berücksichtigt. Daher müssen die europäischen Bürger und ihre Institutionen eine Frage beantworten, die direkt ins Herz ihres Gesellschaftsvertrags zielt: Von wem sollen die Infrastruktur und die Institutionen, die zur Anpassung der menschlich gestalteten Landschaft an die neue physische Wirklichkeit Europas nötig sind, beschlossen, geplant, finanziert, bezahlt und aufgebaut werden? Bis diese Frage beantwortet ist, werden die Europäer erkennen, dass sie die klimatischen Veränderungen des Kontinents in ihrem täglichen Leben immer weniger ignorieren können.

Die neue Front

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Seit 2013 verfügt die Europäische Union über eine Anpassungsstrategie, und 2021 hat sie die wachsende Bedeutung dieses Themas anerkannt. Aber daran, wie überrascht die meisten Mitgliedstaaten über die Ereignisse des letzten Sommers waren, und wie fatal die Bemühungen zur Schadensbegrenzung gescheitert sind, kann man erkennen, dass diese Strategie – mit ihrer Abhängigkeit von nationalen Plänen und lokalen Anpassungsstrategien – der Aufgabe einfach nicht gewachsen war. Um Klimasicherheit zu erreichen, sind enorme Ressourcen und erhebliche politische Souveränität erforderlich. Dies bedeutet, dass das Integrationsprojekt, das Europa seit dem Pariser Vertrag von 1951 verfolgt, nun vor einem „konstitutionellen Moment“ steht.

Die Herausforderung durch physische Umweltveränderungen betrifft alle Mitgliedstaaten, aber einige der davon am stärksten betroffenen Länder liegen in Südeuropa und sind zu stark verschuldet oder zu klein, um sich die nötigen Investitionen leisten zu können. Wollen sich die Europäer erfolgreich an den zunehmenden Klimawandel anpassen, müssen sie sich noch stärker als bisher miteinander verbünden. Sie müssen erkennen, dass der Umgang mit veränderten Klimabedingungen eine neue europäische Front darstellt.

Diese Front liegt an der Grenze, wo die Gesellschaft und eine herausfordernde Umwelt aufeinander treffen. Laut dem Historiker Frederick Jackson Turner aus dem 19. Jahrhundert war es dieser Zusammenstoß der Kräfte, der Amerikas politische und soziale Kultur geprägt hat. Während die Menschen nach Westen zogen, so argumentierte er, wurde der Kontinent immer amerikanischer und immer weniger europäisch: Er überwand die von der Wildnis geprägte Pionierkultur und, laut Turner, auch die amerikanische Demokratie. Turners „Grenzthese“ war von einem mythischen amerikanischen Exzeptionalismus und einem scheinheiligen Sendungsbewusstsein („manifest destiny“) durchdrungen, aber gleichzeitig durch eine einfache Idee bestimmt: Eine Gesellschaft und ihre politischen Regierungsinstitutionen definieren sich durch den Prozess ständiger Erneuerung, die aufgrund schwieriger materieller Umstände nötig ist. Politische Gemeinschaften bilden und erneuern sich unter extremen Bedingungen.

Diese Grenze oder Front ist nicht nur ein geographischer Ort. Sie ist auch eine moralische und politische Schwelle, an der Menschen Infrastruktur aufbauen und Institutionen formen. Für die Entwicklung moderner Staaten ist sie von entscheidender Bedeutung. Deshalb stellt der Klimawandel in dieser Hinsicht Europas neue Front dar.

Die EU ist das wichtigste Republikprojekt der Gegenwart. Obwohl andere Orte – insbesondere Entwicklungsländer – stärker unter dem Klimawandel leiden, betreibt kein anderes Gemeinwesen „state building“ in dem Maße wie Europa. Nicht nur hat der Kontinent Institutionen als Grundlage für den weltgrößten Verbrauchermarkt aufgebaut, sondern er arbeitet an einem politischen Rahmen zur Verwaltung eines Gebiets, das so groß ist wie die Vereinigten Staaten. Dabei entwickelt er eine europäische Identität. Europa muss sich mit der zutiefst politischen Frage beschäftigen, wie seine physische Landschaft aussehen soll, damit sie die Sicherheit der Menschen in der EU gewährleisten kann.

Die konstitutionelle Landschaft

Wesentlich für das europäische Projekt ist das, was die Menschen sehen, wenn sie aus ihren Fenstern schauen. Wie effektiv der europäische Supranationalismus die Landschaft unter Kontrolle halten kann, wird die Legitimität seiner Institutionen bestimmen – die untergraben wird, wenn diese Institutionen, die die Gesellschaft schützen sollen, an ihrem Ziel scheitern.

Die Dürre des letzten Sommers, die für die italienische Wirtschaft schnell zu einer existenziellen Gefahr wurde, hat es auf die Titelseiten sämtlicher Zeitungen des Landes geschafft. Die meisten Kommentatoren haben zwar auf den Klimawandel verwiesen, aber das unmittelbare Problem lag vielmehr darin, dass die Institutionen und die Infrastruktur ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren. Der Po, der Fluss, der durch Italiens fruchtbare nördliche Ebenen fließt, trocknete aus. Dies lag nicht nur an den unterdurchschnittlichen Regenfällen im Frühjahr, sondern auch daran, dass die Wasserspeicher nicht ausgereicht haben, um den mangelnden Schneefall des vorherigen Winters auszugleichen. Außerdem berücksichtigt das Lizenzsystem, mit dem das Wasser unter den Nutzern aufgeteilt wird, nicht die tatsächlich verfügbare Menge. Den Menschen wurde weitgehend erlaubt, sich so zu verhalten, als sei nichts passiert, weshalb zu viel Wasser entnommen wurde.

Zeitgleich mit diesem Fehlschlag wurden für September nationale Wahlen ausgerufen. Aber die italienischen Parteien gaben im Wahlkampf keinerlei Versprechen zur Einführung von Maßnahmen, um die nächste Dürre abzumildern. Es ist genau diese Art politischen Scheiterns, das die EU am stärksten bedroht.

Dass es der EU und den Politikern ihrer Mitgliedstaaten schwerfällt, die Veränderung der physischen Umwelt hohe sicherheitspolitische Priorität zu geben, ist kein Zufall: Sowohl die EU als auch die bürgerlichen Sorgen über die Umwelt sind innerhalb des modernen konstitutionellen Republikanismus eher jüngere Entwicklungen. Dieser wurde 1776 erdacht, als 13 britische Kolonien eine Regierung ausriefen, die nicht auf einer Art transzendenter Legitimationsquelle beruhte, sondern auf dem „Einverständnis der Regierten“. Form nahm er dann 13 Jahre später an, als die US-Verfassung in Kraft trat, die eine aristotelische Staatsorganisation mit (kodifiziertem) Schutz für ihre Bürger kombinierte.

Aber weder in der Verfassung der USA noch in jenen, die in Europa – im nachrevolutionären Frankreich, in Polen und anderswo – von ihr inspiriert wurden, wurden die Landschaft oder die Umwelt als konstitutionelles Subjekt erwähnt. Es ging um Stimm- und Bürgerrechte, und nicht um die physische Landschaft, in der sich das Verhältnis zwischen Bürgern und dem Staat manifestiert. Bis heute ist die physische Welt in den Vereinigten Staaten streng genommen kein Thema von Verfassungsrang. Die meisten Umweltgesetze beruhen auf der Autorität, die die Nationalregierung über den Handel zwischen den Bundesstaaten ausübt.

Als sich Mitte des 19. Jahrhunderts über Europa eine weitere revolutionäre Welle ergoss, spülte sie nationalistische und republikanische Bewegungen an die Macht, die die Politik des Kontinents grundlegend verändern sollten. Aber erst nach dem Ersten Weltkrieg flossen Belange der nationalen Landschaft in die Verfassungsdokumente ein. Laut Artikel 150 der deutschen Verfassung von 1919, die die Weimarer Republik begründete, genießen „künstlerische, historische und nationale Denkmäler und Landschaften den Schutz und die Pflege des Staates“. Auf ähnliche Weise bezog sich auch die relativ kurzlebige Verfassung der spanischen Republik von 1931 ausdrücklich auf den „kulturellen Schatz der Nation“ und verpflichtete den Staat zum Schutz von Orten natürlicher Schönheit. Aber keine dieser Bestimmungen bezog sich auf die eher funktionalen Rollen des Landschaftsmanagements – wie die Zuverlässigkeit und Planungssicherheit, die durch eine gute Wasserwirtschaft oder andere Investitionen in die Gestaltung staatlichen Terrains erreicht wird.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die westliche Welt den Verfassungsstaat in der französischen und amerikanischen Tradition wieder eingeführt, und mit der Zeit wurde die Umwelt in den meisten Ländern zum konstitutionellen Subjekt. So hat die italienische Verfassung von 1948 nicht nur die territoriale Integrität als staatlich schützenswert anerkannt, sondern auch das Erscheinungsbild der Landschaft – also ihren kulturellen Inhalt. Auch einige weitere Länder haben in ihre Gründungsdokumente umweltbezogene Rechte oder Verantwortlichkeiten integriert, und nach dem Erdgipfel von 1992 wurde dieses Rinnsal zur Flut. Heute berücksichtigen drei Viertel aller Länder in ihren Verfassungen die Umwelt. In den meisten Fällen wird sie aber als Gegenstand des Schutzes und der Pflege betrachtet, und nicht als Garant für Schutz vor dem Klimawandel.

Der bedeutendste aktuelle Schritt in dieser langen Tradition des republikanischen Konstitutialismus sind die supranationalen Institutionen der EU. Auch wenn der Lissaboner Vertrag von 2009 alle Versuche zur Einführung eines europäischen Staates obsolet gemacht hat, ist das normative Material, aus dem die EU geformt ist, von ausgesprochen republikanischer und konstitutioneller Art. Aber sogar hier genießt der Umweltschutz zwar grundsätzlich eine hohe Priorität, hatte aber keinen systematischen Ansatz zur Veränderung der Landschaft im Dienste des Klimawandels zur Folge. Um dies zu ändern, täten die Europäer gut daran, die grundsätzliche Rolle zu erkennen, die das strategische Management der Landschaft beim Aufbau der EU gespielt hat.

Von Grund auf

Jean Monnet, der Architekt der europäischen Integration, war ein ungewöhnlicher Politiker: In seiner Sicht der Rolle des Staates war er sozialistisch, aber seiner Neigung nach republikanisch, liberal und unternehmensfreundlich. Statt eine Eliteausbildung anzustreben, ging er auf Reisen und entwickelte eine besondere Vorliebe für die USA sowie eine Faszination für den amerikanischen Westen – also für die Front.

Monnets Verhältnis zu Amerika wurzelte in seiner Bewunderung für die Modellrepublik und in einem Netzwerk enger Kollegen und Mitarbeiter – darunter David Lilienthal, der erste Direktor der Tennessee Valley Authority (TVA). Als er die Grundlagen für die EU schuf, ließ er dort auch die Lektionen einfließen, die er von Amerika gelernt hatte.

Unmittelbar nach dem Krieg war Monnet – als Kommissar der allgemeinen französischen Planungskommission – völlig mit dem französischen Wiederaufbau beschäftigt. Dabei durchtränkte er die Wiederaufbau- und Modernisierungsbemühungen mit Ideen, die er von Lilienthals TVA erhalten hatte. Ein Ergebnis war das Bas-Rhône-Languedoc-Projekt, ein öffentliches Flussprojekt, das zur Entwicklung Südfrankreichs beigetragen hat. Voran getrieben wurde dieses Projekt von Monnets Mitarbeiter Libert Bou und von Philippe Lamour, der danach zum Gründungsvorsitzenden der BRL-Gruppe wurde, die das Projekt bis heute verwaltet.

Außerdem war Monnet am allgemeinen europäischen Wiederaufbau und an Verhandlungen über die Zuteilung der Mittel des Marshallplans beteiligt. Hier sah er, dass es dafür keinen entsprechenden Rahmen geben konnte, ohne die Rolle der deutschen Wirtschaft innerhalb Europas zu berücksichtigen. Zu dieser Zeit war Frankreich der größte Importeur und Deutschland der größte Exporteur von Kohle in Europa. Ein Großteil der europäischen Kohle kam aus dem Ruhrgebiet – einem komplexen System von Flüssen und Kanälen, das vor der Nachkriegsbesatzung durch die alliierten Mächte Deutschlands industrielles Kernland gewesen war.

Monnet, von Natur aus ein Mann der kleinen Schritte, ersann eine wirtschaftliche Lösung für ein politisches Problem: Wiederum inspiriert von seinen Erfahrungen mit der TVA schlug er eine neue internationale Ruhrbehörde vor, die die gemeinsamen Ressourcen – insbesondere Stahl, den Hauptwerkstoff zur Waffenproduktion – bündeln sollte, um die deutsche Industrieproduktion zu kontrollieren und die Gefahr zu verringern, dass die Länder ihre Militärindustrien erneut isoliert voneinander ausbauen.

Letztlich entwickelte sich diese Behörde zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), dem Kernstück des Schuman-Plans – benannt nach dem französischen Außenminister, der Monnets Ideen mit politischem Gewicht versah. Die EGKS, die durch den Pariser Vertrag von 1951 gegründet wurde, war grundlegend politischer Natur und der erste Schritt zur europäischen Integration. Weiter ging der Integrationsprozess dann vom Vertrag von Rom 1957 bis hin zum Maastricht-Vertrag von 1992, mit dem die EU gegründet wurde. Die DNA des europäischen Projekts entwickelte sich aus der europäischen Landschaft und enthielt Prinzipien, wie über ein geschicktes Verhältnis zwischen Staaten sowie ihren Landschaften und Gewässern eine Modernisierung erreicht werden konnte.

Vor lauter Bäumen den Wald übersehen

Sicherlich denken die meisten europäischen Bürger bei supranationalen europäischen Institutionen nicht an ein politisches Projekt, sondern an einen bürokratischen Überbau zur Regulierung. Aber die neue europäische Front erfordert es, diese Ansicht neu zu bewerten. Der Weltklimarat IPCC warnt, der Klimawandel werde Europa – und insbesondere den Mittelmeerraum – härter treffen als die restliche nördliche Hemisphäre.

Diese vergangenen Monate waren kein Zufall. Europa steht vor physischen Veränderungen, und die kommenden Jahre werden politisch dadurch definiert, wie die Europäer auf diese Veränderungen reagieren. Der Kontinent braucht ein neues „Modernisierungsprojekt“, und dies in einem Ausmaß, wie es seit hundert Jahren nicht mehr nötig war. Und dies ist ein ausgesprochen politisches Projekt, das Solidarität zwischen den Ländern erfordert.

Es gibt Anzeichen dafür, dass europäische Institutionen langsam erkennen, was auf dem Spiel steht. 2021 führte die Europäische Zentralbank einen Klimastresstest durch, um die Anfälligkeit der Finanzinstitutionen für physische Risiken zu ermitteln. Dazu simulierte sie, wie reale Wirtschaftsgüter und Unternehmen auf Extremereignisse wie Dürren und Überschwemmungen reagieren. Aber dieser Schwerpunkt auf einmalige Katastrophen geht am größeren Thema vorbei. So wichtig Überschwemmungen, Dürren und andere extreme Wetterereignisse auch sein mögen: Was noch entscheidender ist, ist der langsame, unerbittliche Wandel der Landschaft.

Die klimatischen Veränderungen dieses Jahrzehnts werden unsere Wirtschaft, die an vergangene Bedingungen angepasst ist, destabilisieren. Erfüllt die physische Umwelt eines einst bevorzugten Reiseziels ihren Zweck nicht mehr, verlagert sich der Tourismus. Hitze wird die Produktivität senken und sich auf die Sozialleistungen auswirken. Die Landwirtschaft wird unter verstärkter Trockenheit leiden. Die logistische Infrastruktur wird zerfallen, und die Wirtschaft wird sich zunehmend als schlecht angepasst erweisen.

Angesichts dieser Gefahren könnte man denken, das politische System Europas würde einen Gang hochschalten und einen neuen Anpassungsplan aufstellen. Aber ebenso wie die EU an einer integrierten Verteidigungsvision gescheitert ist, war sie auch unfähig, einen kohärenten und gut ausgestatteten Rahmen zur klimatischen Anpassung zu entwickeln.

Nehmen wir die Aufwendungen, die für Wiederaufbau und Resilienz vorgesehen sind: Das NextGenerationEU-Programm und der gemeinschaftliche Siebenjahreshaushalt sehen zwei Billionen Euro dafür vor, Europa „grüner, digitaler und resilienter“ zu machen. Aber obwohl die Investitionen in grüne Energieträger und die Digitalisierung viel Zuspruch gefunden haben, hat Europa keinen Anpassungsplan, der dem Ausmaß der Probleme angemessen wäre.

Angesichts dessen, was wir letzten Sommer erlebt haben, sollten wir uns vor jeder Investition in Resilienz fragen: Haben wir nach der Ausgabe der Finanzmittel eine bessere Chance, mit der nächsten Dürre fertig zu werden? Im Fall von Italien, dem – mit insgesamt 190 Milliarden Euro an Zuwendungen und Krediten – bei weitem größten Empfängerland des NextGenerationEU-Fonds, werden einige der geplanten Investitionen wie die zwei Milliarden Euro, die für Wasserinfrastruktur (Kanäle, Dämme und Stauseen) vorgesehen sind, dieses Kriterium wohl erfüllen. Aber insgesamt erscheint das Volumen als zu klein, und das Programm ist nicht gut genug koordiniert, um die Sicherheit zu verbessern.

Re-Modernisierung

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gab es eine Zeit, in der Länder in aller Welt aus modernistischem Ehrgeiz heraus ihre Landschaften verändert haben, um sie bewohnbar, kultivierbar und geeignet für industrielle Entwicklung zu machen. Dies war ein ausgesprochen politisches Projekt, das demnach als gemeinsames Ziel eine Zukunftsvision benötigte – ebenso wie einen machbaren und politisch legitimen Weg dorthin. Angesichts des Klimawandels brauchen wir nun eine neue Version davon.

Europas Landschaft war für das europäische Projekt immer schon von zentraler Bedeutung: In der EU-Charta der Grundrechte heißt es, dass „ein hohes Niveau von Umweltschutz und der Verbesserung der Umweltqualität in die Politik der Union integriert und im Einklang mit dem Prinzip der Nachhaltigen Entwicklung gewährleistet“ werden muss. Diese politische Absichtserklärung ist nicht weniger wichtig als Frieden, Freiheit und Sicherheit des Kontinents.

Die EU muss ihre Rolle als Garant der letzten Instanz erfüllen, um an der Klimafront Ressourcensicherheit zu gewährleisten. Europa kann es sich nicht mehr leisten, sich so zu verhalten, als sei es nur ein Wirtschaftsprojekt. Es muss zu einer neuen Modellrepublik werden: einer politischen Union, die für ein neues Zeitalter und eine neue Umwelt geschmiedet wird.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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