OnPoint Subscriber Exclusive
Interviews feature exclusive interviews with prominent leaders and thinkers on issues of global importance.
Europa in der Ära Trump
Irena Grudzińska-Gross: Was war Ihre Reaktion auf die neuerliche Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten?
Adam Michnik: Ich war wütend auf die ganze Welt – wirklich wütend. Ich lese gerade die Autobiografie des amerikanischen Dramatikers aus dem 20. Jahrhundert Arthur Miller (Timebends. Zeitkurven. Ein Leben), die sich vor dem Hintergrund eines Amerikas entfaltet, dem ich sehr verbunden bin. Aber das Amerika, das ich nach dem Wahltag gesehen habe, hat mich rasend gemacht. Und nun sehen Sie sich Trumps entsetzliche Nominierungen für hochrangige Positionen an. Wir werden vier harte Jahre erleben, und anschließend werden Gestalten wie der designierte Vizepräsident J.D. Vance die Zügel in die Hand nehmen. Schwarze Wolken sind überall – weltweit.
Zerfall
IGG: Schauen wir uns die Auswirkungen auf Europa an. Die Gründung der Europäischen Union, einer demokratischen Föderation, ist das Beste, was dem Kontinent seit Ende des Zweiten Weltkriegs widerfahren ist. Doch mit Trumps Rückkehr droht die internationale Nachkriegsordnung zu kippen. Welche Zukunft hat die EU jetzt?
AM: Ich würde die EU nicht als Föderation bezeichnen, denn sie ist wirklich etwas sui generis, etwas ganz Eigenes. Und bis jetzt funktioniert sie, obwohl sie viele Probleme hat. Ich stimme zu, dass sie das Beste ist, was Europa in den letzten 80 Jahren auf die Beine gestellt hat. Die Idee stammt von den westeuropäischen Eliten – Christdemokraten und Sozialdemokraten –, und der Schlüssel zu ihrem Erfolg war die euro-atlantische Verbundenheit. Aber die ist jetzt geschwächt.
Europa ist aus vielen Richtungen bedroht. Trumps Politik und Äußerungen sind völlig unberechenbar; also kann man nicht sagen, was er tun wird. Er könnte einen Deal mit seinem Freund Wladimir Putin machen, er könnte eine Bombe auf den Iran werfen – oder sogar auf Nordkorea. Keiner weiß es, und das ist nicht allein meine Einschätzung. Alle, die mit ihm gearbeitet haben, sagen das Gleiche.
Secure your copy of PS Quarterly: The Year Ahead 2025
Our annual flagship magazine, PS Quarterly: The Year Ahead 2025, has arrived. To gain digital access to all of the magazine’s content, and receive your print copy, subscribe to PS Digital Plus now.
Ein zweites, verwandtes Thema ist natürlich die Ukraine. Aus Warschau sehe ich die Lage folgendermaßen: Die Aussichten sind düster, und alles deutet darauf hin, dass Trump die Ukrainer verraten wird, um seine eigenen engen, persönlichen Interessen zu bedienen. Er ist ein transaktioneller Politiker und wird jeden Deal eingehen, der es ihm ermöglicht, zu sagen, dass er etwas erreicht hat. Er hat im Wahlkampf geäußert, er würde den Krieg innerhalb eines Tages beenden, und ich fürchte, dass er in diesem seltenen Fall Wort halten wird. Er könnte auch einfach die Hilfe für die Ukraine zurückhalten und den Dingen ihren Lauf lassen.
IGG: Ja, das ist leider möglich. Es sei darauf hingewiesen, dass Trump Berichten zufolge Putin in einem Telefonat nach der Wahl gedrängt hat, den Krieg nicht zu eskalieren, und ihn sogar erinnert hat, dass die USA Truppen in Europa haben. Aber Trumps Äußerungen zu einem beliebigen Zeitpunkt sind irrelevant. Schließlich hat er auch gesagt, dass haitianische Flüchtlinge Katzen und Hunde essen. (Ich lache, aber unter Tränen.)
AM: Ja, natürlich. Zeiten wie diese erfordern Galgenhumor.
IGG: Wie bewerten Sie die bisherige Reaktion der EU auf den Krieg in der Ukraine?
AM: Ich sehe sie insgesamt positiv. Eine solche Solidarität, eine solche Eindeutigkeit habe ich nicht erwartet. Die einzigen Ausnahmen waren der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und Leute wie der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder. Aber der vertritt nur sich selbst und [den russischen Gasriesen] Gazprom, nicht Deutschland.
Dennoch gibt es im Herzen Europas einige, die die Sanktionen brechen und mit Russland Geld verdienen werden. Dazu gehören nicht nur Orbán, sondern auch bestimmte Kräfte in Deutschland, Frankreich und Spanien. Die innereuropäischen Konflikte gehen genauso tief wie die in den USA, auch wenn Europa noch nicht von einer Trump-ähnlichen Figur regiert wird. Die Zeiten erinnern an die 1930er Jahre. Deutschland sieht sich mit einer braun-roten Welle der Unterstützung für antieuropäische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) und das Bündnis Sahra Wagenknecht konfrontiert. Die eine stützt sich auf postfaschistische Rhetorik, die andere auf postbolschewistische Rhetorik, aber sie haben ein gemeinsames Ziel: die Zerstörung des parlamentarischen Systems der EU.
IGG: Was erwarten Sie als Nächstes vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj? Er scheint jetzt eher bereit, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, wahrscheinlich, weil er zu dem Schluss gekommen ist, dass ihm eine neuerliche Trump-Regierung keine Wahl lässt. Wird die Ukraine in zwei Teile gespalten werden wie Korea und Vietnam in den 1950er Jahren?
AM: Ich sehe kein gutes Szenario für die Ukraine, was aber nicht heißt, dass es keins gibt. Es könnte ein Black-Swan-Ereignis eintreten, das alles auf den Kopf stellt. Bis zum 5. November habe ich geglaubt, dass Trump verlieren würde. Ich fand, Kamala Harris hat einen sehr guten Wahlkampf geführt. Sie unterschied sich deutlich von Trump und zeigte ein anderes Gesicht Amerikas – eines, an das ich immer noch glaube. Aber dieses Amerika hat verloren. Die nächsten vier Jahre werden eine Tortur. Sie werden schlimme Auswirkungen für Europa haben und die reaktionärsten Kräfte des Kontinents begünstigen.
IGG: Vielleicht erleben wir also wirklich einen weiteren „Münchner“ Moment, in dem Europa zustimmt, einen gewalttätigen Aggressor zu beschwichtigen. 1938 war es die Tschechoslowakei, die geopfert wurde; vielleicht ist jetzt die Ukraine an der Reihe, von ihren Freunden verraten zu werden.
AM: Das ist ein mögliches Worst-Case-Szenario, aber es ist nicht vorherbestimmt. Neville Chamberlain kehrte von seinem Treffen mit Hitler mit der Parole „Frieden für unsere Zeit“ zurück. Hätte Großbritanniens politische Klasse Chamberlain nicht durch Winston Churchill ersetzt, wer weiß, wie der Rest des 20. Jahrhunderts ausgesehen hätte.
Man erinnere sich, dass Edward Halifax, Chamberlains Außenminister, der diese Funktion auch unter Churchill noch eine Zeit lang ausübte, auf einen Separatfrieden, auf von Benito Mussolini vermittelte Gespräche mit Hitler drängte. Als jemand mit eher linken Neigungen sollte ich den konservativen Churchill nicht lieben. Aber was soll ich sagen? Er hat Europa gerettet. Darüber hinaus trat die Labour Party unter Clement Attlee in seine Regierung ein und hat ihr während des gesamten Krieges loyal gedient, weil jeder verstand, dass der Nazismus die Bedrohung der Stunde war.
Heute erwächst vor unseren Augen eine ähnliche Bedrohung: eine seltsame Mischung aus Nazismus und Bolschewismus bzw. Postnazismus und Postbolschewismus. Das ist etwas Neues, und deshalb weiß ich auch nicht, was passieren wird. Ich kann heute nicht viel vorhersehen. Vielleicht bin ich morgen klüger. Heute bin ich verängstigt – oder zumindest mächtig besorgt.
IGG: Was würde es also für Polen bedeuten, wenn Trump die Ukraine im Stich lässt?
AM: Es bedeutet, dass wir eine Grenze zu Russland hätten – einer revanchistischen, atomar bewaffneten Militärmacht, die offen aggressiv und blutrünstig auftritt und auf Rache sinnt. Das verheißt für Polen nichts Gutes. Die Tatsache, dass es in Polen Menschen gibt, die sich über die Wahl Trumps freuen, ist schlicht unbegreiflich.
Ärger an der Heimatfront
IGG: Was würde eine Grenze zu Russland für die EU bedeuten? Erläutern Sie das.
AM: Die Zukunft der EU hängt vom Mut und der Reife der europäischen Eliten ab. Gegenwärtig schwankt Europa zwischen einer Beschwichtigungspolitik gegenüber Russland und entschiedener Unterstützung der Ukraine. Der deutlichste Vertreter der Beschwichtigungspolitik ist Schröder, der, im Sprachgebrauch der Bolschewiki, zu Putins „Kettenhund“ geworden ist.
Auf der anderen Seite stehen die standhaften Verteidiger der Ukraine. Ihr Projekt kann immer noch Erfolg haben, wenn sich Europa darum herum konsolidiert und es schafft, die NATO zu erhalten. Wir wissen noch nicht genau, wie Trumps Haltung zur NATO aussehen wird, denn alles, was er zu diesem Thema sagt, ist voller Ungereimtheiten und Widersprüche.
Und während eine Konsolidierung möglich ist, ist Europa innerlich gespalten. Ich sehe viele Risse und Bruchlinien. Man braucht nur nach Frankreich zu schauen, das hin und her gerissen ist zwischen der Rechten vertreten durch Marine Le Pen und der Linken vertreten durch Jean-Luc Mélenchon. Ich weiß nicht einmal mehr, ob die Worte „rechts“ und „links“ überhaupt noch einen Sinn ergeben. Daran habe ich schon lange Zweifel, und sie werden von Tag zu Tag größer.
IGG: Wie meinen Sie das?
AM: Aus meiner Sicht als jemand mit traditionellen Werten war der Faschismus nie rechts, denn er war keine Bewegung von Aristokraten und Großgrundbesitzern, sondern von Plebejern. Genauso wenig waren die Kommunisten links, weil es ihnen nicht um die Menschenrechte ging. Die heutige Spaltung in Europa besteht also nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen denen, die die verfassungsmäßige Ordnung, die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft verteidigen wollen, und denen, die diese Werte zerstören wollen. Letztere Gruppe umfasst alles von den selbsternannten „Illiberalen“ bis hin zu den Bewunderern der Hamas und den Anhängern traditioneller antidemokratischer Projekte wie denen von Daniel Ortega in Nicaragua oder Nicolás Maduro in Venezuela.
In Europa gehören zu den entschieden antidemokratischen Kräften die AfD, die separatistischen Kräfte in Spanien und die hinter dem Brexit stehende Bewegung. In Ungarn und der Slowakei sind antidemokratische Gestalten sogar an der Macht, und in Polen sind sie nach wie vor eine starke Kraft. Aber Polen ist auch ein Lichtblick auf der Landkarte, weil sich die pro-demokratischen Parteien zusammengeschlossen haben, um die Populisten abzulösen. Wir werden sehen, wie lange sie sich in Schach halten lassen. Der Konflikt dauert an, aber ich möchte ein polnischer Patriot sein, also behaupte ich mal, dass wir den antidemokratischen und populistischen Kräften innerhalb unseres Gemeinwesens bereits eine Absage erteilt haben. (Gelächter)
Zurück zu den Waffen
IGG: Braucht Europa angesichts der sich abschwächenden transatlantischen Beziehungen eine eigene Armee?
AM: Ja, ich denke, Europa sollte seine eigenen Streitkräfte haben, und ich sage das als jemand mit einem pazifistischen Temperament. Ich verabscheue den Krieg, und ich liebe das Militär nicht – zumindest nicht die militärische Kultur –, aber ich denke, wenn man es mit Putin und einer Welle des populistischen und revanchistischen Terrorismus zu tun hat, muss man eine entschlossene militärische Antwort vorbereiten.
IGG: Sollte diese Antwort von der NATO ausgehen?
AM: Das kann ich nicht sagen. Das ist eine Frage für Fachleute, Politiker und Diplomaten. Ich kann jedoch sagen, dass sich die NATO seit ihrer Gründung bewährt hat. Der Verlust der NATO wäre ein Geschenk an Autokraten, Populisten und Diktatoren. Käme unsere Verteidigung nicht von der NATO, müssten wir uns überlegen, womit wir sie ersetzen könnten. So oder so muss Europa über eine Streitmacht verfügen, die effizient auf Bedrohungen reagieren kann.
Die Krise auf dem Balkan in den 90er Jahren hat gezeigt, dass manche Dinge ohne eine Organisation wie die NATO einfach nicht zu machen sind. Hätten wir nicht militärisch eingegriffen, wäre Slobodan Milošević heute womöglich immer noch an der Macht. Ohne europäische und amerikanische Hilfe wäre die Ukraine nicht in der Lage gewesen, sich in den letzten zweieinhalb Jahren gegen Russland zu wehren. Wer hätte gedacht, dass die Ukrainer so lange Widerstand leisten können? Niemand in Europa oder auf der anderen Seite des Atlantiks hat das erwartet.
IGG: Sind höhere Militär- und Verteidigungsausgaben mit den Verpflichtungen des Wohlfahrtsstaates – dem Kernstück des europäischen Gesellschaftsvertrags – vereinbar?
AM: Nun, wenn Putins Streitkräfte Europa beherrschen, sind Renten, Gesundheitsversorgung und Bildungswesen ohnehin verloren. Ich sehe die Gefahr, von der Sie sprechen, aber hier steht etwas anderes auf dem Spiel. Hier geht es um den ganzen Pott; ohne Sicherheit hat man nichts.
IGG: Und dann ist da noch der Krieg im Nahen Osten.
AM: Ganz genau. Eine weitere Gefahr für Europa geht vom Nahen Osten aus. Die Lage dort ist tragisch und außerordentlich angespannt, und das sage ich als jemand, der Israel das Beste wünscht. Ich befürchte, dass die Regierung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Dinge in die falsche Richtung lenken und Israel einem viele Jahre währenden Fluch aussetzen wird. Er spielt um die Macht, er hat Trumps Unterstützung, und er wird mit einer US-Regierung zusammenarbeiten, deren hochrangige außenpolitische Vertreter (darunter Marco Rubio, Elise Stefanik und Mike Huckabee) seine Ansichten voll und ganz teilen. Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger wird es für die israelische Öffentlichkeit, Netanjahu von der Macht zu entfernen.
IGG: Wie beurteilen Sie die Haltung der EU zu Israel und zur Lage im Nahen Osten?
AM: Die Lage in Gaza ist schrecklich. Dies ist eines der wenigen Themen, bei denen ich nirgends ein positives Szenario am Horizont erkennen kann. Weder die palästinensische noch die israelische Führung sind an einer Einigung interessiert, und ohne die Kraft der Argumente bleibt nur das Argument der Gewalt.
Europa versucht, den Konflikt irgendwie zu entschärfen, aber bisher ohne Erfolg. Auf der einen Seite stehen Netanjahu und die extrem radikalen, chauvinistischen Parteien, aus denen seine Regierung besteht; sie alle nähren sich von der Rhetorik und den Realitäten des Krieges. Auf der anderen Seite stehen die Überreste der Hamas und die Palästinensische Autonomiebehörde, eine völlig geschwächte Institution, die sich dank der Unterstützung des Westens ans Leben klammert. So wie die Dinge laufen, wird die Hamas letztlich auch die PA dominieren.
Meine Erwartungen hier sind sehr pessimistisch.
Aus dem Englischen von Jan Doolan