LONDON: „Verzweifelter, wahnhafter Premier klammert sich an die Macht“, hieß es am 7. Juli 2022 auf der Titelseite der Printausgabe der britischen Tageszeitung The Guardian. Doch lässt sich das bizarre Verhalten des britischen Premierministers Boris Johnson wirklich auf psychische Probleme zurückführen?
Derart oberflächliche Behauptungen sind in der heutigen Medienlandschaft nur allzu häufig. Im Falle Johnsons ist es schwer, einen Artikel zu finden, der keine psychiatrische Diagnose irgendeiner Art enthält. Wenn überhaupt geht es darum, welche konkrete emotionale Krankheit er zeigt, und nicht, ob es eine andere psychologische Erklärung für seine surrealen Mätzchen gibt.
Nach einer beispiellosen Rücktrittswelle unter seinen Ministern in dieser Woche musste man Johnson die Schlüssel zu Nr. 10 Downing Street beinahe aus der Hand zerren, so starrsinnig weigerte er sich, die offensichtliche Logik seiner Situation zu akzeptieren. Noch in seiner Rede, in der er schließlich seinen Rücktritt verkündete, gab er einem „Herdeninstinkt“ unter Parteikollegen die Schuld für seinen Sturz und nannte es „exzentrisch“, zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Regierungschef auszutauschen.
Aber ist er „wahnhaft“? Für Psychiater ist das ein Fachbegriff mit präzise definierter Bedeutung. Die Opfer von Wahnvorstellungen klammern sich trotz überwältigender Belege an Vorstellungen, die offenkundig falsch sind. Doch selbst, wenn jemand diese Kriterien erfüllt, sagt uns das nicht wirklich, was wir wissen müssen. Wir müssen uns zusätzlich fragen, was den Betreffenden dazu bringt, sich vernünftigen Argumenten derart zu widersetzen, und worauf seine schweren Fehleinschätzungen zurückzuführen sind.
Die Führungspsychologie legt nahe, dass dieselben Elemente, die manche Politiker populär machen, auch ihren letztlichen Niedergang herbeiführen. Das Psychodrama eines gewählten Spitzenpolitikers spiegelt daher häufig das Unterbewusstsein eines politischen Gemeinwesens wider: Wir kriegen manchmal wahnhafte Politiker, weil wir bei unserem Wahlverhalten selbst eine gewisse Realitätsferne an den Tag legen.
David Collinson, Professor für Führung und Organisation an der Universität Lancaster, führt dieses Dilemma auf übertrieben positives Denken zurück; er selbst spricht – unter Verweis auf das bekannte Antidepressivum, das verspricht, die Menschen aufzumuntern, ohne die Probleme in ihrem Leben tatsächlich zu beheben – von „Prozac-Führung“. Diese, so Collinson, „ermutigt Führer, an ihre eigenen Narrative zu glauben, wonach alles gut läuft, und schreckt ihre Anhänger davon ab, Probleme anzusprechen oder Fehler einzugestehen“.
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In der Politik kommen Prozac-Führer häufig an die Macht, indem sie den Wählern eine völlig überoptimistische Sicht der Zukunft verkaufen. Wenn die Bevölkerung sich das Narrativ eines Prozac-Führers zu eigen macht, ist sie es, die bereits am Rande des Wahns steht. Ein Land, das sich einen solchen Regierungschef zulegt, leidet womöglich, ist unglücklich und bedarf verzweifelt einer künstlichen Aufmunterung. Auf Johnson – einen Mann, der für seine Bonhomie und erbarmungslose gute Laune bekannt ist – scheint Collinsons Beschreibung eindeutig zuzutreffen. Man erinnere sich, dass Johnson, bevor seine politische Karriere an Schwung gewann, häufig in Comedy-Programmen im Fernsehen zu Gast war.
Nun freilich lacht keiner mehr. Prozac-Führer fallen unweigerlich irgendwann ihrer eigenen Positivität zum Opfer; sie weigern sich, Belege in Betracht zu ziehen, die ihren eigenen rosigen Einschätzungen widersprechen. Selbst wenn alles um sie herum zusammenbricht, konzentrieren sie sich auf das Positive und überzeugen sich selbst, dass es noch immer einen Ausweg aus dem Abgrund gibt.
Manche würden auch Donald Trump als Prozac-Führer charakterisieren. Nachdem er die US-Präsidentschaftswahl 2020 eindeutig verloren hatte, überzeugte er seine Anhänger, dass sie in Wahrheit gewonnen hätten und noch obsiegen würden. Doch dass Trump an sein eigenes Narrativ glaubte, scheint zunehmend zweifelhaft. Der Untersuchungsausschuss des US-Kongresses zum 6. Januar hat eine Vielzahl von Beweisen aufgedeckt, die zeigen, dass Trump sich seiner Niederlage völlig bewusst war.
Ein weiteres potenzielles Beispiel ist Wladimir Putin, der für seine Anhänger und die breitere russische Öffentlichkeit eine Art nostalgischer Traumwelt heraufbeschworen hat. Putin glaubt angesichts der Berichte, dass er von seinen eigenen Generälen unzutreffende Informationen erhalten hat, womöglich wirklich, dass seine Chance auf Eroberung der Ukraine besser sei als sie es ist.
Collinson betrachtet performative Positivität als ein kennzeichnendes Merkmal zeitgenössischer Kultur. Unter Wirtschaftsführern und Spitzenpolitikern ist eine optimistische Eigenwerbung inzwischen große Mode. Johnson erschien es womöglich offensichtlich, dass man Stärke, Macht und Selbstvertrauen projizieren muss.
Im Gegensatz hierzu kritisierte der ehemalige Schatzkanzler Rishi Sunak Johnson in seinem Rücktrittsschreiben hart dafür, dass er der Öffentlichkeit negative Wahrheiten vorenthalten habe. „Unser Land steht vor immensen Herausforderungen“, so Sunak. „Wir beide wollen eine wachstumsstarke Volkswirtschaft mit niedrigen Steuern und öffentliche Dienstleistungen von Weltrang, aber das ist nur dann in verantwortlicher Weise erreichbar, wenn wir bereit sind, hart zu arbeiten, Opfer zu bringen und schwierige Entscheidungen zu treffen.“
Die meisten Menschen wissen, dass, wenn etwas zu gut scheint, um wahr zu sein, es vermutlich nicht wahr ist. Es ist eine Sache, der Öffentlichkeit zu erzählen, dass eine bessere Zukunft möglich ist; etwas ganz anderes ist es, zu behaupten, dass der Weg dorthin einfach sei. Das Markenzeichen von Prozac-Führern ist es, dass sie nie zulassen werden, dass ihre Wahrheit mit der Realität kollidiert; lieber weichen sie ihr bis zuletzt aus. Noch in seiner Rücktrittsrede klammerte sich Johnson an die Vorstellung, dass „selbst wenn die Dinge derzeit manchmal düster erscheinen mögen, unsere gemeinsame Zukunft golden ist“.
Es ist nun an der britischen Öffentlichkeit, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden. Positivität um ihrer selbst willen kann ein Land nur so weit bringen.
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In betting that the economic fallout from his sweeping new tariffs will be worth the gains in border security, US President Donald Trump is gambling with America’s long-term influence and prosperity. In the future, more countries will have even stronger reasons to try to reduce their reliance on the United States.
thinks Donald Trump's trade policies will undermine the very goals they aim to achieve.
While America’s AI industry arguably needed shaking up, the news of a Chinese startup beating Big Tech at its own game raises some difficult questions. Fortunately, if US tech leaders and policymakers can take the right lessons from DeepSeek's success, we could all end up better for it.
considers what an apparent Chinese breakthrough means for the US tech industry, and innovation more broadly.
LONDON: „Verzweifelter, wahnhafter Premier klammert sich an die Macht“, hieß es am 7. Juli 2022 auf der Titelseite der Printausgabe der britischen Tageszeitung The Guardian. Doch lässt sich das bizarre Verhalten des britischen Premierministers Boris Johnson wirklich auf psychische Probleme zurückführen?
Derart oberflächliche Behauptungen sind in der heutigen Medienlandschaft nur allzu häufig. Im Falle Johnsons ist es schwer, einen Artikel zu finden, der keine psychiatrische Diagnose irgendeiner Art enthält. Wenn überhaupt geht es darum, welche konkrete emotionale Krankheit er zeigt, und nicht, ob es eine andere psychologische Erklärung für seine surrealen Mätzchen gibt.
Nach einer beispiellosen Rücktrittswelle unter seinen Ministern in dieser Woche musste man Johnson die Schlüssel zu Nr. 10 Downing Street beinahe aus der Hand zerren, so starrsinnig weigerte er sich, die offensichtliche Logik seiner Situation zu akzeptieren. Noch in seiner Rede, in der er schließlich seinen Rücktritt verkündete, gab er einem „Herdeninstinkt“ unter Parteikollegen die Schuld für seinen Sturz und nannte es „exzentrisch“, zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Regierungschef auszutauschen.
Aber ist er „wahnhaft“? Für Psychiater ist das ein Fachbegriff mit präzise definierter Bedeutung. Die Opfer von Wahnvorstellungen klammern sich trotz überwältigender Belege an Vorstellungen, die offenkundig falsch sind. Doch selbst, wenn jemand diese Kriterien erfüllt, sagt uns das nicht wirklich, was wir wissen müssen. Wir müssen uns zusätzlich fragen, was den Betreffenden dazu bringt, sich vernünftigen Argumenten derart zu widersetzen, und worauf seine schweren Fehleinschätzungen zurückzuführen sind.
Die Führungspsychologie legt nahe, dass dieselben Elemente, die manche Politiker populär machen, auch ihren letztlichen Niedergang herbeiführen. Das Psychodrama eines gewählten Spitzenpolitikers spiegelt daher häufig das Unterbewusstsein eines politischen Gemeinwesens wider: Wir kriegen manchmal wahnhafte Politiker, weil wir bei unserem Wahlverhalten selbst eine gewisse Realitätsferne an den Tag legen.
David Collinson, Professor für Führung und Organisation an der Universität Lancaster, führt dieses Dilemma auf übertrieben positives Denken zurück; er selbst spricht – unter Verweis auf das bekannte Antidepressivum, das verspricht, die Menschen aufzumuntern, ohne die Probleme in ihrem Leben tatsächlich zu beheben – von „Prozac-Führung“. Diese, so Collinson, „ermutigt Führer, an ihre eigenen Narrative zu glauben, wonach alles gut läuft, und schreckt ihre Anhänger davon ab, Probleme anzusprechen oder Fehler einzugestehen“.
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In der Politik kommen Prozac-Führer häufig an die Macht, indem sie den Wählern eine völlig überoptimistische Sicht der Zukunft verkaufen. Wenn die Bevölkerung sich das Narrativ eines Prozac-Führers zu eigen macht, ist sie es, die bereits am Rande des Wahns steht. Ein Land, das sich einen solchen Regierungschef zulegt, leidet womöglich, ist unglücklich und bedarf verzweifelt einer künstlichen Aufmunterung. Auf Johnson – einen Mann, der für seine Bonhomie und erbarmungslose gute Laune bekannt ist – scheint Collinsons Beschreibung eindeutig zuzutreffen. Man erinnere sich, dass Johnson, bevor seine politische Karriere an Schwung gewann, häufig in Comedy-Programmen im Fernsehen zu Gast war.
Nun freilich lacht keiner mehr. Prozac-Führer fallen unweigerlich irgendwann ihrer eigenen Positivität zum Opfer; sie weigern sich, Belege in Betracht zu ziehen, die ihren eigenen rosigen Einschätzungen widersprechen. Selbst wenn alles um sie herum zusammenbricht, konzentrieren sie sich auf das Positive und überzeugen sich selbst, dass es noch immer einen Ausweg aus dem Abgrund gibt.
Manche würden auch Donald Trump als Prozac-Führer charakterisieren. Nachdem er die US-Präsidentschaftswahl 2020 eindeutig verloren hatte, überzeugte er seine Anhänger, dass sie in Wahrheit gewonnen hätten und noch obsiegen würden. Doch dass Trump an sein eigenes Narrativ glaubte, scheint zunehmend zweifelhaft. Der Untersuchungsausschuss des US-Kongresses zum 6. Januar hat eine Vielzahl von Beweisen aufgedeckt, die zeigen, dass Trump sich seiner Niederlage völlig bewusst war.
Ein weiteres potenzielles Beispiel ist Wladimir Putin, der für seine Anhänger und die breitere russische Öffentlichkeit eine Art nostalgischer Traumwelt heraufbeschworen hat. Putin glaubt angesichts der Berichte, dass er von seinen eigenen Generälen unzutreffende Informationen erhalten hat, womöglich wirklich, dass seine Chance auf Eroberung der Ukraine besser sei als sie es ist.
Collinson betrachtet performative Positivität als ein kennzeichnendes Merkmal zeitgenössischer Kultur. Unter Wirtschaftsführern und Spitzenpolitikern ist eine optimistische Eigenwerbung inzwischen große Mode. Johnson erschien es womöglich offensichtlich, dass man Stärke, Macht und Selbstvertrauen projizieren muss.
Im Gegensatz hierzu kritisierte der ehemalige Schatzkanzler Rishi Sunak Johnson in seinem Rücktrittsschreiben hart dafür, dass er der Öffentlichkeit negative Wahrheiten vorenthalten habe. „Unser Land steht vor immensen Herausforderungen“, so Sunak. „Wir beide wollen eine wachstumsstarke Volkswirtschaft mit niedrigen Steuern und öffentliche Dienstleistungen von Weltrang, aber das ist nur dann in verantwortlicher Weise erreichbar, wenn wir bereit sind, hart zu arbeiten, Opfer zu bringen und schwierige Entscheidungen zu treffen.“
Die meisten Menschen wissen, dass, wenn etwas zu gut scheint, um wahr zu sein, es vermutlich nicht wahr ist. Es ist eine Sache, der Öffentlichkeit zu erzählen, dass eine bessere Zukunft möglich ist; etwas ganz anderes ist es, zu behaupten, dass der Weg dorthin einfach sei. Das Markenzeichen von Prozac-Führern ist es, dass sie nie zulassen werden, dass ihre Wahrheit mit der Realität kollidiert; lieber weichen sie ihr bis zuletzt aus. Noch in seiner Rücktrittsrede klammerte sich Johnson an die Vorstellung, dass „selbst wenn die Dinge derzeit manchmal düster erscheinen mögen, unsere gemeinsame Zukunft golden ist“.
Es ist nun an der britischen Öffentlichkeit, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden. Positivität um ihrer selbst willen kann ein Land nur so weit bringen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan