BRÜSSEL – Die Befürworter eines „Brexit“ – also jene, die wollen, das Großbritannien die Europäische Union verlässt – argumentieren, dass ihr Ziel praktisch kostenfrei zu erreichen wäre und keine Auswirkungen auf den weltweiten britischen Handel hätte. Sie irren. Wenn am 23. Juni die Wähler in Großbritannien ihre Stimme in dem diesbezüglichen Referendum abgeben, müssen sie bedenken, was ein Austritt aus der EU tatsächlich beinhaltet – und man wie die Vorteile des Freihandels, die sie derzeit genießen (und als selbstverständlich betrachten), nach einem Brexit aufrecht erhalten könnte.
Lassen Sie uns mit den Grundlagen beginnen. Die EU zu verlassen bedeutet, dass Großbritannien aus deren Zollunion austritt, die die Grundlage für den grenzübergreifenden Freihandel zwischen den 28 Mitgliedern der EU ist (und gemeinsame Außenzölle gegenüber Drittstaaten festlegt). Es bedeutet zugleich den Austritt aus dem Binnenmarkt, der die Grundlage für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen EU-Mitgliedern bildet. Nicht-EU-Mitglieder können per definitionem nicht dem Binnenmarkt angehören.
Was also würde als Nächstes passieren? Während der zweijährigen Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des britischen Austritts würde es Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über viele Punkte geben – Souveränität, die Rechtsordnung, Einwanderung, die Finanzen sowie Wirtschaftsangelegenheiten. Die Annahme ist, dass es ein entscheidendes Ziel für Großbritannien wäre, eine Handelsbeziehung auszuhandeln, die den heutigen Freihandelsbeziehungen möglichst stark ähnelt.
Das ist leichter gesagt als getan. Das beste Ergebnis wäre, wenn sich alle Akteure einigen würden, den bereits erreichten Freihandel beizubehalten, wobei Großbritannien einen neuen, für alle geltenden Außenzoll auf zollfreier Basis festlegen würde. So war das in den 1970er Jahren, nachdem Großbritannien und Dänemark die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) verließen: Es wurden Freihandelsverträge zwischen den EFTA-Mitgliedern sowie zwischen diesen und der EU (bzw. der EWG, wie sie damals hieß) ausgehandelt.
Allerdings sollten sich die Brexit-Befürworter bewusst machen, dass es keine Garantie dafür gibt, dass so etwas noch einmal passiert – und dass es in jedem Fall Komplikationen geben würde. Während diese Lösung gut wäre für die 45% der britischen Exporte, die in EU-Märkte verkauft werden, würde sie den Schutz für die britische Industrie auf null senken. Laut den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) müssen dieselben Einfuhrzölle für alle WTO-Teilnehmer gelten – was bedeutet, dass, wenn Großbritanniens Einfuhren aus der EU zollfrei gestellt werden, das auch für seine Einfuhren aus der übrigen Welt gelten muss.
Die Alternative wäre, dass die britischen Exporteure den gemeinsamen Außenzoll der EU akzeptieren und dass Großbritannien seinen eigenen Einfuhrzoll festlegt, der für alle Importe gilt – auch jene aus der EU. Da der gemeinsame Zoll für Industrie- und Fischereiprodukte relativ niedrig liegt, wäre dies möglicherweise keine unüberwindliche Hürde für britische Exporte, und es würde eine gewisse Flexibilität beim Schutz britischer Unternehmen vor Importen gewährleisten. Die potenzielle Fallgrube dabei ist, dass jede britische Zollerhöhung über EU-Niveau Großbritannien Entschädigungsansprüchen aus WTO-Drittstaaten aussetzen würde.
At a time when democracy is under threat, there is an urgent need for incisive, informed analysis of the issues and questions driving the news – just what PS has always provided. Subscribe now and save $50 on a new subscription.
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Die wichtigere Frage, die die Brexit-Befürworter beantworten müssen, ist, wie sie sich ein hohes Maß an Zugang zum EU-Binnenmarkt sichern. Dies ist lebenswichtig für Großbritanniens Dienstleistungsbranchen, insbesondere für den Export von Finanzdienstleistungen durch die Londoner City.
Es gibt nur einen Präzedenzfall, bei dem Nicht-EU-Mitglieder in der Lage waren, einen Zugang zum Binnenmarkt auszuhandeln, der genau dem entsprach, den EU-Mittglieder genießen. Dies ist das von der EU 1992 mit Norwegen, Island und Liechtenstein geschlossene Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum.
Aus Sicht vieler Beobachter (ich gehöre dazu) steht der Zugang zum Binnenmarkt über den Europäischen Wirtschaftsraum heute nicht länger zur Verfügung. Aber was wäre, wenn wir da falsch liegen? Der Punkt ist, dass ein derartiges Abkommen gegen alle Instinkte (und Rhetorik) der Brexit-Befürworter verstößt, denn es würde bedeuten, die „vier Freiheiten“ der EU zu akzeptieren: nicht nur den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital, sondern auch die Freizügigkeit von Personen. Das wäre schwer mit dem Ziel eines Brexit vereinbar, „unsere Grenzen zu kontrollieren“. Die Brexit-Befürworter würden zudem vor der britischen Verpflichtung im Rahmen eines derartigen Abkommens zurückschrecken, weiter zum EU-Haushalt beizutragen.
Natürlich könnte es Sonderregelungen für bestimmte Sektoren geben. Aber es erscheint unwahrscheinlich, dass derartige Regelungen im Bereich der Finanzdienstleistungen und der wichtigsten professionellen Dienstleistungen (etwa für Ärzte, Architekten und Anwälte) möglich wären, die für Großbritanniens Wettbewerber in Europa wichtig sind. Tatsächlich ist es mögliche, dass die EU eine strikte merkantilistische Haltung einnehmen würde: Wenn ihr privilegierten Zugang wollt, solltet ihr im Club bleiben.
Die abschließende Folge eines Brexit ist, dass Großbritannien seine Freihandelsvereinbarungen mit Drittländern im Rahmen der vielen von der EU seit dem Jahr 2000 geschlossenen Abkommen verlieren würde. Diese Regelungen durch bilaterale Vereinbarungen zu ersetzen, würde dauern. Es gibt keine Gewähr, dass die EU einer zwischenzeitlichen Fortsetzung des Freihandels zustimmen würde, und es scheint sicher, dass für britische Exporte in jene Drittstaaten höhere Zölle anfallen würden, als Großbritanniens frühere EU-Partner sie zahlen müssen (was die britischen Exporteure einem Wettbewerbsnachteil aussetzen würde).
Es ist ein bisschen viel verlangt, dass die Brexit-Befürworter uns auffordern, darauf zu vertrauen, dass die prominentesten europäischen und außereuropäischen politischen Führer die Auswirkungen eines Brexit alle falsch einschätzen. In der Handelsdebatte haben – neben dem britischen Finanzministerium – der Internationale Währungsfonds, US-Präsident Barack Obama und die OECD die Briten gewarnt, dass ein Votum für den Austritt schlecht für die Wirtschaft wäre. Es ist keine überzeugende Antwort, zu argumentieren, dass die OECD „im Sold der EU steht“ oder das Obama antibritisch eingestellt sei, weil er während der britischen Kolonialzeit einen kenianischen Vater hatte.
Wirtschaftliche Prognosen sind eine unsichere Sache. Aber wenn beinahe alle Prognosen in dieselbe Richtung weisen – dass ein Brexit für Großbritannien enorm schädlich wäre –, ist es Zeit, zu entscheiden, was glaubwürdig ist und was nicht.
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South Korea's latest political crisis is further evidence that the 1987 constitution has outlived its usefulness. To facilitate better governance and bolster policy stability, the country must establish a new political framework that includes stronger checks on the president and fosters genuine power-sharing.
argues that breaking the cycle of political crises will require some fundamental reforms.
Among the major issues that will dominate attention in the next 12 months are the future of multilateralism, the ongoing wars in Ukraine and the Middle East, and the threats to global stability posed by geopolitical rivalries and Donald Trump’s second presidency. Advances in artificial intelligence, if regulated effectively, offer a glimmer of hope.
asked PS contributors to identify the national and global trends to look out for in the coming year.
BRÜSSEL – Die Befürworter eines „Brexit“ – also jene, die wollen, das Großbritannien die Europäische Union verlässt – argumentieren, dass ihr Ziel praktisch kostenfrei zu erreichen wäre und keine Auswirkungen auf den weltweiten britischen Handel hätte. Sie irren. Wenn am 23. Juni die Wähler in Großbritannien ihre Stimme in dem diesbezüglichen Referendum abgeben, müssen sie bedenken, was ein Austritt aus der EU tatsächlich beinhaltet – und man wie die Vorteile des Freihandels, die sie derzeit genießen (und als selbstverständlich betrachten), nach einem Brexit aufrecht erhalten könnte.
Lassen Sie uns mit den Grundlagen beginnen. Die EU zu verlassen bedeutet, dass Großbritannien aus deren Zollunion austritt, die die Grundlage für den grenzübergreifenden Freihandel zwischen den 28 Mitgliedern der EU ist (und gemeinsame Außenzölle gegenüber Drittstaaten festlegt). Es bedeutet zugleich den Austritt aus dem Binnenmarkt, der die Grundlage für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen EU-Mitgliedern bildet. Nicht-EU-Mitglieder können per definitionem nicht dem Binnenmarkt angehören.
Was also würde als Nächstes passieren? Während der zweijährigen Übergangszeit bis zum Inkrafttreten des britischen Austritts würde es Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über viele Punkte geben – Souveränität, die Rechtsordnung, Einwanderung, die Finanzen sowie Wirtschaftsangelegenheiten. Die Annahme ist, dass es ein entscheidendes Ziel für Großbritannien wäre, eine Handelsbeziehung auszuhandeln, die den heutigen Freihandelsbeziehungen möglichst stark ähnelt.
Das ist leichter gesagt als getan. Das beste Ergebnis wäre, wenn sich alle Akteure einigen würden, den bereits erreichten Freihandel beizubehalten, wobei Großbritannien einen neuen, für alle geltenden Außenzoll auf zollfreier Basis festlegen würde. So war das in den 1970er Jahren, nachdem Großbritannien und Dänemark die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) verließen: Es wurden Freihandelsverträge zwischen den EFTA-Mitgliedern sowie zwischen diesen und der EU (bzw. der EWG, wie sie damals hieß) ausgehandelt.
Allerdings sollten sich die Brexit-Befürworter bewusst machen, dass es keine Garantie dafür gibt, dass so etwas noch einmal passiert – und dass es in jedem Fall Komplikationen geben würde. Während diese Lösung gut wäre für die 45% der britischen Exporte, die in EU-Märkte verkauft werden, würde sie den Schutz für die britische Industrie auf null senken. Laut den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) müssen dieselben Einfuhrzölle für alle WTO-Teilnehmer gelten – was bedeutet, dass, wenn Großbritanniens Einfuhren aus der EU zollfrei gestellt werden, das auch für seine Einfuhren aus der übrigen Welt gelten muss.
Die Alternative wäre, dass die britischen Exporteure den gemeinsamen Außenzoll der EU akzeptieren und dass Großbritannien seinen eigenen Einfuhrzoll festlegt, der für alle Importe gilt – auch jene aus der EU. Da der gemeinsame Zoll für Industrie- und Fischereiprodukte relativ niedrig liegt, wäre dies möglicherweise keine unüberwindliche Hürde für britische Exporte, und es würde eine gewisse Flexibilität beim Schutz britischer Unternehmen vor Importen gewährleisten. Die potenzielle Fallgrube dabei ist, dass jede britische Zollerhöhung über EU-Niveau Großbritannien Entschädigungsansprüchen aus WTO-Drittstaaten aussetzen würde.
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Es gibt nur einen Präzedenzfall, bei dem Nicht-EU-Mitglieder in der Lage waren, einen Zugang zum Binnenmarkt auszuhandeln, der genau dem entsprach, den EU-Mittglieder genießen. Dies ist das von der EU 1992 mit Norwegen, Island und Liechtenstein geschlossene Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum.
Aus Sicht vieler Beobachter (ich gehöre dazu) steht der Zugang zum Binnenmarkt über den Europäischen Wirtschaftsraum heute nicht länger zur Verfügung. Aber was wäre, wenn wir da falsch liegen? Der Punkt ist, dass ein derartiges Abkommen gegen alle Instinkte (und Rhetorik) der Brexit-Befürworter verstößt, denn es würde bedeuten, die „vier Freiheiten“ der EU zu akzeptieren: nicht nur den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital, sondern auch die Freizügigkeit von Personen. Das wäre schwer mit dem Ziel eines Brexit vereinbar, „unsere Grenzen zu kontrollieren“. Die Brexit-Befürworter würden zudem vor der britischen Verpflichtung im Rahmen eines derartigen Abkommens zurückschrecken, weiter zum EU-Haushalt beizutragen.
Natürlich könnte es Sonderregelungen für bestimmte Sektoren geben. Aber es erscheint unwahrscheinlich, dass derartige Regelungen im Bereich der Finanzdienstleistungen und der wichtigsten professionellen Dienstleistungen (etwa für Ärzte, Architekten und Anwälte) möglich wären, die für Großbritanniens Wettbewerber in Europa wichtig sind. Tatsächlich ist es mögliche, dass die EU eine strikte merkantilistische Haltung einnehmen würde: Wenn ihr privilegierten Zugang wollt, solltet ihr im Club bleiben.
Die abschließende Folge eines Brexit ist, dass Großbritannien seine Freihandelsvereinbarungen mit Drittländern im Rahmen der vielen von der EU seit dem Jahr 2000 geschlossenen Abkommen verlieren würde. Diese Regelungen durch bilaterale Vereinbarungen zu ersetzen, würde dauern. Es gibt keine Gewähr, dass die EU einer zwischenzeitlichen Fortsetzung des Freihandels zustimmen würde, und es scheint sicher, dass für britische Exporte in jene Drittstaaten höhere Zölle anfallen würden, als Großbritanniens frühere EU-Partner sie zahlen müssen (was die britischen Exporteure einem Wettbewerbsnachteil aussetzen würde).
Es ist ein bisschen viel verlangt, dass die Brexit-Befürworter uns auffordern, darauf zu vertrauen, dass die prominentesten europäischen und außereuropäischen politischen Führer die Auswirkungen eines Brexit alle falsch einschätzen. In der Handelsdebatte haben – neben dem britischen Finanzministerium – der Internationale Währungsfonds, US-Präsident Barack Obama und die OECD die Briten gewarnt, dass ein Votum für den Austritt schlecht für die Wirtschaft wäre. Es ist keine überzeugende Antwort, zu argumentieren, dass die OECD „im Sold der EU steht“ oder das Obama antibritisch eingestellt sei, weil er während der britischen Kolonialzeit einen kenianischen Vater hatte.
Wirtschaftliche Prognosen sind eine unsichere Sache. Aber wenn beinahe alle Prognosen in dieselbe Richtung weisen – dass ein Brexit für Großbritannien enorm schädlich wäre –, ist es Zeit, zu entscheiden, was glaubwürdig ist und was nicht.
Aus dem Englischen von Jan Doolan