OTTAWA – Als ich vor kurzem in Toronto unterwegs war, fiel mir auf der Straße ein Plakat ins Auge, auf dem ein Ölkonzern seine ehrgeizigen Klimaschutzmaßnahmen feiert. Um derart unglaubwürdige Behauptungen zu lesen, muss ich nicht einmal das Haus verlassen.
Einer Studie von The Guardian und InfluenceMap zufolge ist Google voll von solchen Anzeigen. Sucht man beispielsweise nach dem Begriff „klimaneutral“ wird in 86 Prozent der Fälle Werbung des Ölriesen Shell angezeigt, in der das Unternehmen verspricht, bis 2050 klimaneutral zu werden. Begreifen die großen Konzerne endlich den Ernst der Klimakrise oder ist das nur wieder Greenwashing?
Eines ist sicher: die Klimakrise verschärft sich dramatisch. Kalifornien ächzt unter beispiellosen Hitzewellen. Ein Drittel von Pakistan steht unter Wasser. China leidet unter einer verheerenden Dürre mit möglicherweise globalen Auswirkungen. Und das ist nur eine Momentaufnahme. Seien es Kälteeinbrüche in Texas oder Waldbrände in Europa, der Klimawandel lässt sich nicht mehr ignorieren.
Beim Klimaschutz sind wir seit der Unterzeichnung des Übereinkommens von Paris im Jahr 2015 schon weit gekommen. Alle Welt spricht von Klimaneutralität und für rund 90 Prozent des weltweiten BIP gelten inzwischen Netto-Nullemissionsziele. Und nicht nur Regierungen haben sich diese Ziele gesetzt, sondern auch viele der größten Unternehmen der Welt, getrieben von einer Mischung aus unternehmerischem Interesse, Erwartungen der Investoren und Druck der Verbraucher.
Wenn also die meisten Unternehmen – einschließlich der Öl- und Gaskonzerne – heute „Klimaschützer“ sind, die vollmundig Klimaneutralität versprechen, warum nehmen die Emissionen dann immer noch zu? Ein Blick auf die Geschichte des Klimaschutzes gibt die Antwort.
In den letzten 20 Jahren haben unzählige Klimainitiativen versucht, Unternehmen und Investoren dazu zu bringen, sich Klimaziele zu setzen, ihre Emissionen entsprechend zu verringern und dann noch ehrgeizigere Ziele festzulegen. Diese Initiativen hatten eines gemeinsam: sie waren alle freiwillig.
Wie jeder weiß, der schon einmal seine Neujahrsvorsätze Mitte Januar über Bord geworfen hat, wird nicht jedes Versprechen auch gehalten. Woher sollen wir wissen, dass jemand, der verspricht klimaneutral zu werden, auch die dafür nötigen Schritte unternimmt? Zurzeit können wir das nicht.
Das hat einen „Klimaleerlauf“ ermöglicht, bei dem sich Unternehmen als umweltbewusst verkaufen und gleichzeitig ihre Geschäfte unverändert oder fast unverändert fortführen. Tatsächlich berücksichtigt zurzeit nur eines von drei Unternehmen in seinem Klimaschutzplan den gesamten CO2-Fußabdruck einschließlich seiner Lieferkette. Und nicht einer der Konzerne, die weltweit am meisten Emissionen verursachen, hat erklärt, wie genau er klimaneutral werden will.
Oder wie UN-Generalsekretär António Guterres es kürzlich ausgedrückt hat: „Die Welt hat keine Zeit zu verlieren und wir können uns keine Nachzügler, Trickser oder irgendeine Form von Greenwashing erlauben.“ Die Hochrangigen Sachverständigengruppe für Klimaversprechen, deren Vorsitzende ich bin, soll genau diese Probleme lösen. Wir sind eine unabhängige und diverse Gruppe von Expertinnen und Experten, die wissenschaftlich fundierte Empfehlungen erarbeiten möchte, wie Regierungen und Unternehmen ihre selbstgesteckten Ziele erreichen können.
Obwohl wir gerade erst mit der Arbeit anfangen, sind schon jetzt drei Dinge klar. Erstens: Ein Versprechen ohne Plan ist bedeutungslos. Unternehmen müssen ihre Geschäftsstrategie an ihre Selbstverpflichtung anpassen, ehrgeizige Maßnahmen ergreifen und schnellstmöglich Fortschritte machen. Und damit sind keine Zahlenspielereien mit fragwürdigen Kompensationen gemeint; der einzig glaubwürdige Weg zur Klimaneutralität sind radikale Emissionseinsparungen.
Als Hilfestellung wird die Hochrangige Sachverständigengruppe definieren, welche Schritte notwendig sind, um klimaneutral zu werden. Dazu gehören klare Kriterien für glaubwürdige Klimaschutzpläne, die auch die Themen soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit berücksichtigen. Wenn einzelne Regionen und Branchen unsere Kriterien übernehmen, sorgt dies für Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit.
Zweitens: Freiwillige Initiativen reichen nicht. Wir brauchen keine Neujahrsvorsätze, wir brauchen neue Geschäftspläne. Deshalb ist Regulierung notwendig, damit freiwillige Klimaschutzrichtlinien durch verbindliche Strategien ersetzt und faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. Eine zentrale Aufgabe der Hochrangigen Sachverständigengruppe besteht darin, eine Liste der dafür notwendigen Rechtsvorschriften zu erstellen.
Drittens: Wir brauchen Rechenschaftspflicht. Wenn Unternehmen, Banken, Investoren, Städte und Regionen sich zur Klimaneutralität verpflichten, müssen wir ihnen vertrauen können. Faire Verfahrensregeln sind ein erster Schritt. Regierungen, Unternehmen und Geldgeber müssen aber auch zu radikaler Transparenz bereit sein. Fortschritte sind leicht zu erkennen: Wenn statt in fossile Brennstoffe in saubere Energien investiert wird, sinken die Emissionen.
Unsere Sachverständigengruppe hat bereits über 800 Gruppen einbezogen, mit Tausenden Experten gesprochen und fast 300 Vorschläge gesichtet, wie Klimaversprechen besser werden können – das zeigt deutlich, dass viele Interessengruppen echten Fortschritt beim Klimaschutz wollen. Ein Erfolg würde uns das nicht nur die Chance geben, das Klima zu stabilisieren, sondern uns auch enorme wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen. McKinsey zufolge könnte die steigende Nachfrage nach klimaneutralen Angeboten bis 2030 Umsätze von über 12 Billionen US-Dollar generieren.
Letztes Jahr habe ich die Politik verlassen, um meine Zeit den zwei Dingen zu widmen, die mir am wichtigsten sind: meinen Kindern und dem Klimawandel. Beide Prioritäten sind aufs engste miteinander verwoben. Wenn wir eine Zukunft vermeiden wollen, in der unsere Kinder zwischen Überschwemmungen und Bränden „klimaneutralen“ Speck kaufen, müssen wir die Lücke zwischen den Versprechen, die wir hören, und den Taten, die wir brauchen, schließen.
OTTAWA – Als ich vor kurzem in Toronto unterwegs war, fiel mir auf der Straße ein Plakat ins Auge, auf dem ein Ölkonzern seine ehrgeizigen Klimaschutzmaßnahmen feiert. Um derart unglaubwürdige Behauptungen zu lesen, muss ich nicht einmal das Haus verlassen.
Einer Studie von The Guardian und InfluenceMap zufolge ist Google voll von solchen Anzeigen. Sucht man beispielsweise nach dem Begriff „klimaneutral“ wird in 86 Prozent der Fälle Werbung des Ölriesen Shell angezeigt, in der das Unternehmen verspricht, bis 2050 klimaneutral zu werden. Begreifen die großen Konzerne endlich den Ernst der Klimakrise oder ist das nur wieder Greenwashing?
Eines ist sicher: die Klimakrise verschärft sich dramatisch. Kalifornien ächzt unter beispiellosen Hitzewellen. Ein Drittel von Pakistan steht unter Wasser. China leidet unter einer verheerenden Dürre mit möglicherweise globalen Auswirkungen. Und das ist nur eine Momentaufnahme. Seien es Kälteeinbrüche in Texas oder Waldbrände in Europa, der Klimawandel lässt sich nicht mehr ignorieren.
Beim Klimaschutz sind wir seit der Unterzeichnung des Übereinkommens von Paris im Jahr 2015 schon weit gekommen. Alle Welt spricht von Klimaneutralität und für rund 90 Prozent des weltweiten BIP gelten inzwischen Netto-Nullemissionsziele. Und nicht nur Regierungen haben sich diese Ziele gesetzt, sondern auch viele der größten Unternehmen der Welt, getrieben von einer Mischung aus unternehmerischem Interesse, Erwartungen der Investoren und Druck der Verbraucher.
Wenn also die meisten Unternehmen – einschließlich der Öl- und Gaskonzerne – heute „Klimaschützer“ sind, die vollmundig Klimaneutralität versprechen, warum nehmen die Emissionen dann immer noch zu? Ein Blick auf die Geschichte des Klimaschutzes gibt die Antwort.
In den letzten 20 Jahren haben unzählige Klimainitiativen versucht, Unternehmen und Investoren dazu zu bringen, sich Klimaziele zu setzen, ihre Emissionen entsprechend zu verringern und dann noch ehrgeizigere Ziele festzulegen. Diese Initiativen hatten eines gemeinsam: sie waren alle freiwillig.
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Wie jeder weiß, der schon einmal seine Neujahrsvorsätze Mitte Januar über Bord geworfen hat, wird nicht jedes Versprechen auch gehalten. Woher sollen wir wissen, dass jemand, der verspricht klimaneutral zu werden, auch die dafür nötigen Schritte unternimmt? Zurzeit können wir das nicht.
Das hat einen „Klimaleerlauf“ ermöglicht, bei dem sich Unternehmen als umweltbewusst verkaufen und gleichzeitig ihre Geschäfte unverändert oder fast unverändert fortführen. Tatsächlich berücksichtigt zurzeit nur eines von drei Unternehmen in seinem Klimaschutzplan den gesamten CO2-Fußabdruck einschließlich seiner Lieferkette. Und nicht einer der Konzerne, die weltweit am meisten Emissionen verursachen, hat erklärt, wie genau er klimaneutral werden will.
Oder wie UN-Generalsekretär António Guterres es kürzlich ausgedrückt hat: „Die Welt hat keine Zeit zu verlieren und wir können uns keine Nachzügler, Trickser oder irgendeine Form von Greenwashing erlauben.“ Die Hochrangigen Sachverständigengruppe für Klimaversprechen, deren Vorsitzende ich bin, soll genau diese Probleme lösen. Wir sind eine unabhängige und diverse Gruppe von Expertinnen und Experten, die wissenschaftlich fundierte Empfehlungen erarbeiten möchte, wie Regierungen und Unternehmen ihre selbstgesteckten Ziele erreichen können.
Obwohl wir gerade erst mit der Arbeit anfangen, sind schon jetzt drei Dinge klar. Erstens: Ein Versprechen ohne Plan ist bedeutungslos. Unternehmen müssen ihre Geschäftsstrategie an ihre Selbstverpflichtung anpassen, ehrgeizige Maßnahmen ergreifen und schnellstmöglich Fortschritte machen. Und damit sind keine Zahlenspielereien mit fragwürdigen Kompensationen gemeint; der einzig glaubwürdige Weg zur Klimaneutralität sind radikale Emissionseinsparungen.
Als Hilfestellung wird die Hochrangige Sachverständigengruppe definieren, welche Schritte notwendig sind, um klimaneutral zu werden. Dazu gehören klare Kriterien für glaubwürdige Klimaschutzpläne, die auch die Themen soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit berücksichtigen. Wenn einzelne Regionen und Branchen unsere Kriterien übernehmen, sorgt dies für Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit.
Zweitens: Freiwillige Initiativen reichen nicht. Wir brauchen keine Neujahrsvorsätze, wir brauchen neue Geschäftspläne. Deshalb ist Regulierung notwendig, damit freiwillige Klimaschutzrichtlinien durch verbindliche Strategien ersetzt und faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. Eine zentrale Aufgabe der Hochrangigen Sachverständigengruppe besteht darin, eine Liste der dafür notwendigen Rechtsvorschriften zu erstellen.
Drittens: Wir brauchen Rechenschaftspflicht. Wenn Unternehmen, Banken, Investoren, Städte und Regionen sich zur Klimaneutralität verpflichten, müssen wir ihnen vertrauen können. Faire Verfahrensregeln sind ein erster Schritt. Regierungen, Unternehmen und Geldgeber müssen aber auch zu radikaler Transparenz bereit sein. Fortschritte sind leicht zu erkennen: Wenn statt in fossile Brennstoffe in saubere Energien investiert wird, sinken die Emissionen.
Unsere Sachverständigengruppe hat bereits über 800 Gruppen einbezogen, mit Tausenden Experten gesprochen und fast 300 Vorschläge gesichtet, wie Klimaversprechen besser werden können – das zeigt deutlich, dass viele Interessengruppen echten Fortschritt beim Klimaschutz wollen. Ein Erfolg würde uns das nicht nur die Chance geben, das Klima zu stabilisieren, sondern uns auch enorme wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen. McKinsey zufolge könnte die steigende Nachfrage nach klimaneutralen Angeboten bis 2030 Umsätze von über 12 Billionen US-Dollar generieren.
Letztes Jahr habe ich die Politik verlassen, um meine Zeit den zwei Dingen zu widmen, die mir am wichtigsten sind: meinen Kindern und dem Klimawandel. Beide Prioritäten sind aufs engste miteinander verwoben. Wenn wir eine Zukunft vermeiden wollen, in der unsere Kinder zwischen Überschwemmungen und Bränden „klimaneutralen“ Speck kaufen, müssen wir die Lücke zwischen den Versprechen, die wir hören, und den Taten, die wir brauchen, schließen.