lowcock4_Samuel CorumGetty Images_data Samuel Corum/Getty Images

Investitionen in Daten retten Leben

NEW YORK – Als im März 2020 die Covid-19-Pandemie begann, gab es in Afghanistan lediglich 300 Beatmungsgeräte und zwei Intensivstationen. Frühen epidemiologischen Modellen zufolge würde das rund 38 Millionen Einwohner zählende Land bis zum Beginn des Sommers einen Höchststand von bis zu 520.000 Fällen und 3.900 Todesfällen pro Tag verzeichnen. Angesichts der Aussicht auf zehn Millionen Fälle innerhalb weniger Monate bereiteten sich Helfer und Regierungsvertreter auf eine Katastrophe für die öffentliche Gesundheit vor.

Damit Entscheidungsträger besser verstehen können, worauf sie ihre begrenzten Ressourcen konzentrieren sollten, verwendeten das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) und die Rockefeller Foundation Ist-Daten für Afghanistan – darunter Covid-19-Infektionsraten und Standorte von Gesundheitseinrichtungen – um die Anzahl der Fälle, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle über einen Zeitraum von vier Wochen zu prognostizieren. Diese realistischere Prognose half den Behörden, sich auf einen Höchststand an Fällen und Todesfällen vorzubereiten, der sich als geringer erwies und später erreicht wurde als von anderen Modellen vorhergesagt. Eine genaue Prognose der Anforderungen ermöglicht effektivere humanitäre Hilfe.

Doch Modelle sind nur so gut wie die Daten, auf denen sie basieren. Und um sich auf die nächste Krise vorzubereiten, muss die Welt bessere Daten sammeln und gemeinsam nutzen.

Der Leitgedanke unseres Modells, das wir zusammen mit dem Labor für angewandte Physik der Johns Hopkins University entwickelt haben, war es, kurzfristige operative Entscheidungen zu unterstützen, um mehr Menschenleben in humanitären Krisen zu schützen und zu retten. Außer in Afghanistan haben wir das Modell auch in der Demokratischen Republik Kongo, im Irak, in Somalia, im Südsudan und im Sudan eingesetzt. Wir verwendeten Covid-19-bezogene Daten, die um nicht gemeldete Fälle bereinigt wurden, sowie Daten zu Mobilitätsmustern, zur Gesundheitsinfrastruktur und zu zugrundeliegenden Anfälligkeiten der Bevölkerung aufgrund von Ernährungsunsicherheit oder Begleiterkrankungen wie Diabetes.

Unsere Erfahrung mit dem Aufbau eines Prognosemodells und dessen Nutzung durch die Gesundheitsbehörden in diesen Ländern zeigte, dass dieser Ansatz zu besseren Ergebnissen in der humanitären Hilfe führen kann. Aber es hat uns auch vor Augen geführt, dass erhebliche Probleme mit der Datenlage ‒ sowohl in Bezug auf Lücken als auch auf die Qualität ‒ die Brauchbarkeit und die Genauigkeit solcher Modelle für die am meisten gefährdeten Länder der Welt einschränken. So waren etwa Daten zur Prävalenz von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in mehreren ärmeren Ländern vier bis sieben Jahre alt und für den Sudan und den Südsudan überhaupt nicht verfügbar.

Weltweit fehlen immer noch etwa 50% der Daten, die für eine effektive Reaktion in Ländern mit humanitären Notlagen erforderlich sind. OCHA und die Rockefeller Foundation arbeiten während der Covid-19-Pandemie und darüber hinaus gemeinsam daran, frühzeitig Einblicke in Krisen geben zu können. Um das volle Potenzial unseres Ansatzes auszuschöpfen, sind wir allerdings auf die Beiträge anderer angewiesen.

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Wenn also Regierungen, Entwicklungsbanken und große humanitäre und Entwicklungsorganisationen über das erste Jahr der Pandemiebekämpfung sowie über die Diskussionen auf der jüngsten Frühjahrstagung der Weltbank reflektieren, müssen sie erkennen, welche entscheidende Rolle Daten bei der Bewältigung dieser Krise und der Verhinderung künftiger Krisen spielen werden. Es sollte für alle humanitären und Entwicklungsakteure oberste Priorität haben, die Lücken bei maßgeblichen Daten zu schließen.

Regierungen, humanitäre Organisationen und regionale Entwicklungsbanken müssen daher in die Datenerfassung, die Infrastruktur für den Datenaustausch und die Menschen, die diese Prozesse managen, investieren. Ebenso müssen diese Akteure besser darin werden, ihre Daten verantwortungsvoll über offene Datenplattformen zu teilen, die strenge Interoperabilitätsstandards einhalten.

Wo keine Daten verfügbar sind, sollte der private Sektor neue Informationsquellen durch innovative Methoden erschließen, wie etwa die Nutzung anonymisierter Social-Media-Daten oder Kommunikationsdatensätze, um Bewegungsmuster der Bevölkerung nachzuvollziehen. Die gemeinsame Nutzung von Daten ist natürlich auf Vertrauen angewiesen. Daher muss die Welt dem jüngsten Aufruf der Weltbank für einen neuen Gesellschaftsvertrag für Daten folgen, der auf gemeinsamem sozialen und wirtschaftlichen Wert, gleichberechtigtem Nutzen und auf der Förderung des Vertrauens beruht, dass die Daten nicht von denen missbraucht werden, die sie sammeln.

Das globale System der humanitären Hilfe ist äußerst effektiv, aber der gegenwärtige Bedarf ist beispiellos. Schätzungen zufolge wird eine Rekordzahl von 235 Millionen Menschen auf aller Welt in diesem Jahr humanitäre Hilfe und Schutz benötigen, ein Anstieg von fast 40% gegenüber 2020. Der Hunger nimmt zu, die Binnenvertreibung ist auf dem höchsten Stand seit Jahrzehnten, schwere Wetterereignisse treten häufiger auf und Krankheitsausbrüche nehmen zu. Gleichzeitig wird die Kluft zwischen humanitären Notwendigkeiten und den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln immer größer.

Qualitativ hochwertige Daten ermöglichen es politischen Entscheidungsträgern, begrenzte Ressourcen an der größten Not auszurichten, und die Covid-19-Pandemie hat deutlich gemacht, dass wir mehr solcher Informationen benötigen. Die Welt muss sich diese Lektion zu Herzen nehmen und in die Dateninfrastruktur und die personellen Kapazitäten investieren, die erforderlich sind, um Krisen zuvorzukommen, zukünftige Bedürfnisse vorherzusagen und Reaktionen früher einzuleiten. Die Rendite in Form von geretteten Leben wäre enorm.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/WjZPA8Jde