zizek31_Horacio Villalobos#CorbisGetty Images_marinelepen Horacio Villalobos/Corbis/Getty Images

Das Gespenst des Neofaschismus geht um in Europa

LJUBLJANA – Die Überraschung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Monat war, dass das von allen erwartete Ergebnis tatsächlich eingetreten ist. Um eine klassische Szene der Marx Brothers zu paraphrasieren: Europa mag so reden und handeln, als bewege es sich nach rechts außen, aber lassen Sie sich nicht täuschen; Europa bewegt sich tatsächlich nach rechts außen.

Warum sollten wir auf dieser Interpretation bestehen? Weil ein Großteil der Mainstream-Medien versucht hat, sie herunterzuspielen. Die Botschaft, die wir immer wieder hören, lautet: „Sicher, Marine Le Pen, Giorgia Meloni und die Alternative für Deutschland (AfD) kokettieren gelegentlich mit faschistischen Motiven, aber es gibt keinen Grund zur Panik, denn sobald sie an der Macht sind, respektieren sie immer noch demokratische Regeln und Institutionen“. Dennoch sollte diese Domestizierung der radikalen Rechten uns alle beunruhigen, denn sie signalisiert die Bereitschaft der traditionellen konservativen Parteien, sich der neuen Bewegung zu öffnen. Das Axiom der europäischen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, „keine Zusammenarbeit mit Faschisten“, wurde stillschweigend aufgegeben.

Die Botschaft dieser Wahl ist klar. Die politische Kluft verläuft in den meisten EU-Ländern nicht mehr zwischen der gemäßigten Rechten und der gemäßigten Linken, sondern zwischen der konventionellen Rechten, verkörpert durch den großen Gewinner, die Europäische Volkspartei (bestehend aus Christdemokraten, Liberalkonservativen und traditionellen Konservativen) und der neofaschistischen Rechten, vertreten durch Le Pen, Meloni, AfD und andere.

Die Frage ist nun, ob die EVP mit den Neofaschisten zusammenarbeiten wird. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stellt das Ergebnis als einen Triumph der EVP gegen beide „Extreme“ dar. Tatsächlich wird es im neuen Parlament jedoch keine linken Parteien geben wird, deren Extremismus auch nur annähernd mit dem der Rechtsextremen vergleichbar ist. Diese „ausgewogene“ Sichtweise der EU-Spitzenpolitikerin sendet ein verheerendes Signal.

Wenn wir heute über Faschismus sprechen, dürfen wir uns nicht auf den entwickelten Westen beschränken. Eine ähnliche Art von Politik ist auch in weiten Teilen des globalen Südens auf dem Vormarsch. Der italienische marxistische Historiker Domenico Losurdo (der auch für seine Rehabilitierung Stalins bekannt ist) betont in seiner Studie über die Entwicklung Chinas die Unterscheidung zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht. Als Deng Xiaoping seine „Reformen“ durchführte, wusste er, dass Elemente des Kapitalismus notwendig waren, um die Produktivkräfte einer Gesellschaft freizusetzen; aber er bestand jedoch darauf, dass die politische Macht fest in den Händen der Kommunistischen Partei Chinas (als selbsternannter Vertreter der Arbeiter und Bauern) bleiben sollte.

Dieser Ansatz hat tiefe historische Wurzeln. Mehr als ein Jahrhundert lang hat sich China den „Panasianismus“ zu eigen gemacht, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die westliche imperialistische Vorherrschaft und Ausbeutung entstand. Wie der Historiker Viren Murthy erklärt, war dieses Projekt stets von einer Ablehnung nicht des westlichen Kapitalismus, sondern des westlichen liberalen Individualismus und Imperialismus getragen. Durch den Rückgriff auf vormoderne Traditionen und Institutionen, so argumentierten die Panasianisten, könnten die asiatischen Gesellschaften ihre eigene Modernisierung organisieren und eine noch größere Dynamik erreichen als der Westen.

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Während Hegel selbst Asien als eine Domäne starrer Ordnung betrachtete, die keinen Individualismus (freie Subjektivität) zuließ, schlugen die Panasianisten einen neuen hegelschen konzeptuellen Rahmen vor. Da die Freiheit, die der westliche Individualismus biete, letztlich die Ordnung negiere und zu sozialem Zerfall führe, so argumentierten sie, bestehe die einzige Möglichkeit, die Freiheit zu bewahren, darin, sie in eine neue kollektive Handlungsmacht zu lenken.

Ein frühes Beispiel für dieses Modell ist die Militarisierung und koloniale Expansion Japans vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch die Lehren der Geschichte werden schnell vergessen. Auf der Suche nach Lösungen für die großen Probleme könnten sich viele im Westen wieder vom asiatischen Modell angezogen fühlen, das individualistische Triebe und die Sehnsucht nach Sinn in einem kollektiven Projekt vereint.

Der Panasianismus neigte dazu, zwischen seinen sozialistischen und faschistischen Spielarten zu schwanken (wobei die Grenze zwischen den beiden nicht immer klar ist), was uns daran erinnert, dass der „Anti-Imperialismus“ nicht so unschuldig ist, wie er scheint. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts traten japanische und deutsche Faschisten regelmäßig als Verteidiger gegen den amerikanischen, britischen und französischen Imperialismus auf, und heute findet man rechtsextreme nationalistische Politiker, die ähnliche Positionen gegenüber der Europäischen Union vertreten.

Die gleiche Tendenz lässt sich im China der Nach-Deng-Ära zu beobachten, das der Politikwissenschaftler A. James Gregor als „eine Variante des zeitgenössischen Faschismus“ bezeichnet: eine kapitalistische Wirtschaft, die von einem autoritären Staat kontrolliert und reguliert wird, dessen Legitimität auf ethnischen Traditionen und nationalem Erbe beruht. Aus diesem Grund verweist der chinesische Präsident Xi Jinping auf die lange, kontinuierliche Geschichte Chinas, die bis in die Antike zurückreicht. Die Nutzung wirtschaftlicher Impulse für nationalistische Projekte ist die eigentliche Definition von Faschismus, und eine ähnliche politische Dynamik findet sich auch in Indien, Russland, der Türkei und anderen Ländern.

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum dieses Modell an Attraktivität gewonnen hat. Während sich die Sowjetunion in einem chaotischen Zerfallsprozess befand, setzte die KPCh auf wirtschaftliche Liberalisierung bei gleichzeitiger strikter Kontrolle. Deshalb loben die mit China sympathisierenden Linken das Land für die Unterordnung des Kapitals, im Gegensatz zu den Systemen in den USA und Europa, wo das Kapital uneingeschränkt herrscht.

Aber der neue Faschismus wird auch durch neuere Trends unterstützt. Neben Le Pen ist Fidias Panayiotou ein weiterer großer Gewinner der Europawahlen. Der zypriotische YouTuber, erregte Aufmerksamkeit, weil er Elon Musk umarmen wollte und dazu seine Follower dazu aufforderte, Musks Mutter mit seiner Bitte zu „spammen“, während er vor dem Twitter-Hauptquartier auf sein Ziel wartete. Schließlich traf Musk Panayiotou und umarmte ihn, woraufhin er seine Kandidatur für das Europäische Parlament ankündigte. Mit einer Anti-Parteien-Plattform gewann er 19,4 % der Stimmen und sicherte sich einen Sitz.

Ähnliche Figuren sind auch in Frankreich, in Großbritannien, Slowenien und anderswo aufgetaucht. Sie alle rechtfertigen ihre Kandidatur mit dem „linken“ Argument, dass die demokratische Politik zu einem Witz geworden sei und genauso gut Clowns kandidieren könnten. Das ist ein gefährliches Spiel. Wenn genügend Menschen an emanzipatorischer Politik verzweifeln und den Rückzug ins Possenhafte akzeptieren, wird der politische Raum für den Neofaschismus immer größer.

Um diesen Raum zurückzuerobern, bedarf es ernsthafter und authentischer Maßnahmen. Trotz meiner Meinungsverschiedenheiten mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron halte ich es für richtig, dass er auf den Sieg der französischen Rechtsextremen mit der Auflösung der Nationalversammlung und der Ausrufung von Neuwahlen reagiert hat. Seine Ankündigung hat fast alle überrascht und ist sicherlich riskant. Aber es ist ein Risiko, das sich lohnt. Selbst wenn Le Pen gewinnt und den nächsten Premierminister stellt, hat Macron als Präsident immer noch die Möglichkeit, eine neue Mehrheit gegen die Regierung zu mobilisieren. Wir müssen den Kampf gegen den neuen Faschismus so energisch und so schnell wie möglich aufnehmen.

Deutsch von Andreas Hubig

https://prosyn.org/TEKXJMpde