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Finanzfeldzug in Richtung Krieg

BERLIN – Da weltweite Finanzstabilität als öffentliches Gut angesehen werden sollte, verschreiben sich viele internationale Institutionen dem Ziel, die Voraussetzungen für deren Aufrechterhaltung zu schaffen. Geopolitische Konflikte führen jedoch oft zu einem Umdenken. Plötzlich wird Instabilität zu einem nützlichen Instrument, um die eigenen Interessen in einem globalen Nullsummenwettbewerb zu schützen. In unserer heutigen Zeit der Handelskriege, grenzüberschreitender Lieferketten und Zugangsbeschränkungen zu Schlüsseltechnologien - nennen wir es „Geotechnopolitik“ - kristallisiert sich eine neue Variante dieser alten Dynamik heraus. Wenn geschichtliche Entwicklungen einen Leitfaden darstellen, steht ein Finanzkrieg vor der Tür.

Im 20. Jahrhundert ging beiden Weltkriegen die Bildung rivalisierender Blöcke und eine Zunahme gezielter Finanzattacken voraus. Vor dem Hintergrund eskalierender diplomatischer Spannungen, versuchte jede Seite, die Leistungsfähigkeit der jeweils anderen durch einen finanziellen Zermürbungskrieg zu schwächen. In der Zeit vor 1914 folgte die militärische Mobilisierung einer vorangegangenen finanziellen Mobilisierung.

So reagierte etwa Frankreich während der zweiten Marokkokrise 1911 auf die Entsendung eines deutschen Kanonenboots in die Küstenstadt Agadir mit dem raschen Abverkauf deutscher Wertpapiere, wodurch in Deutschland eine Finanzpanik ausgelöst wurde. Gleichzeitig wandte sich Österreich-Ungarn, dessen Unternehmen sich den französischen Kapitalmarkt erschließen wollten, von seinem deutschen Verbündeten ab und stellte sich auf die Seite Frankreichs. Dadurch fühlte man sich in Deutschland im Hinblick auf die österreichische Unterstützung nicht mehr so sicher, war aber umso entschlossener, wirtschaftliche Probleme zu erfinden, um das Habsburgerreich auf seine Seite zu zwingen.

Im Jahr 1939 war der Weg in Richtung Krieg noch deutlicher von Finanzattacken geprägt. Die Weltwirtschaftskrise hatte gezeigt, wie Panik und Bankenzusammenbrüche ganze Länder zermürben und zerstören konnten und die Strategen hatten eine offensichtliche Waffe parat. Da Kurseinbrüche von Anleihen oder Devisenabflüsse die Regierungen zu Sparmaßnahmen zwingen würden, war die Herbeiführung einer Finanzkrise ein wirksames Mittel, um die Verteidigungsausgaben eines Rivalen (stets der größte Haushaltsposten) zu senken.

So griffen die deutschen Wirtschaftsplaner ab 1936 über eine Amsterdamer Bank immer wieder den französischen Franc an und schließlich gelang es ihnen auch, auf diesem Weg den französischen Militärhaushalt zu belasten. Diese finanzielle Mobilisierung für den Krieg bildete die Falle, die für Frankreich beim Einmarsch Nazi-Deutschlands 1940 zuschnappte.

Vor dem Hintergrund erhöhter weltweiter Spannungen nach der Covid-19-Pandemie und des russsischen Einmarschs in die Ukraine im Jahr 2022 besteht die berechtigte Sorge, dass die internationale Ordnung zusammenbricht und dass andere Prioritäten das Streben nach Finanzstabilität als globales öffentliches Gut verdrängt haben. Alte Strategien, um ein Nullsummenspiel zu gewinnen, kommen wieder zum Vorschein, und so ist der Finanzkrieg in Form von Sanktionen mit aller Macht zurückgekehrt.

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In der Tat scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis neben Cyberangriffen und massenhafter Desinformation auch feindselige Finanzspekulationen in das Arsenal der hybriden Kriegsführung aufgenommen werden. Ein strafferes Zinsumfeld macht Turbulenzen auf den Anleihemärkten wahrscheinlicher. Die Zeit ist reif für Finanzattacken.

Die Gefährdungslagen sind auf der ganzen Welt offensichtlich. Das Niedrigzinsregime der letzten 15 Jahre hat weltweit einen Bauboom angeheizt, aber durch Covid-19 haben sich Lebens- und Arbeitsgewohnheiten gewandelt. Dadurch veränderten sich auch die Erwartungen hinsichtlich der Nutzung von Gebäuden und der dazugehörigen Infrastruktur (wenn sie überhaupt genutzt werden). Angesichts des rückläufigen Bedarfs an Büroflächen in Großstadtzentren sind Gewerbeimmobilien besonders gefährdet. Wir beobachten bereits den spektakulären Zusammenbruch führender Immobilienentwickler wie Evergrande in China und Signa in Österreich und Mitteleuropa.

Auch die Aktienmärkte bekommen die Turbulenzen zu spüren. Der russische MOEX-Index fiel in den 12 Monaten nach Oktober 2021 um mehr als 50 Prozent. Trotz einer einsetzenden Erholung im Oktober 2022 gerät er jetzt jedoch wieder ins Wanken.

In ähnlicher Weise brach auch der chinesische Shanghai Composite Index zwischen September 2021 und Ende Januar 2024 um fast ein Drittel ein. Seither intervenieren die chinesischen Behörden mit immer umfassenderen Maßnahmen, um die Spekulation einzudämmen und den Zusammenbruch zu verhindern. In Hongkong - dem wichtigsten Finanzvermittler zwischen China und der Welt - präsentiert sich die Lage noch dramatischer.

Man könnte diese Marktsignale als finanzielles Urteil gegen Russland und China interpretieren. Im geopolitischen Westen läuft es hingegen gut: Der japanische Nikkei sowie die europäischen und US-amerikanischen Aktienmärkte befinden sich im Höhenflug, und die Probleme im Bereich Gewerbeimmobilien haben zu keiner Form von allgemeiner Panik geführt. Außerdem rühmen sich die westlichen Institutionen zunehmend, finanzielle und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit zu gewährleisten.

Es fällt schwer, sich eine Vorgehensweise vorzustellen, wie geopolitische Rivalen einen Zusammenbruch im Westen im weiteren Sinne auslösen könnten. Aktuell gibt es keine Entsprechung jener Amsterdamer Bank der 1930er Jahre, die den französischen Franc in einem zeitlich genau abgestimmten Angriff zu Fall brachte, um den Feind im Vorfeld einer Invasion zu schwächen.

Bleibt also Rhetorik. Wie so viele andere Bereiche folgt auch das Finanzwesen konstruierten Narrativen, die sich abrupt ändern können und so eine generelle Neubewertung herbeiführen. Der faszinierendste - und aufschlussreichste - Teil des bizarren Interviews, das der russische Präsident Wladimir Putin dem rechten US-amerikanischen Meinungsmacher Tucker Carlson diesen Monat gab, bestand nicht in Putins verrücktem Exkurs durch ein Jahrtausend russischer Geschichte, sondern in seinem offensichtlichen Versuch, das Finanzmarkt-Narrativ umzuschreiben.

Putin begann mit der Feststellung: „Der Dollar bildet die Grundlage der Macht der Vereinigten Staaten.“ Anschließend skizzierte er ein Szenario, in dem sich die Welt gegen den Dollar wenden und ein geschwächtes Amerika zu Fall bringen würde: „Sie aber werden mit dem Gelddrucken nicht aufhören. Was sagt uns ein Schuldenstand von 33 Billionen Dollar? Es geht um die Emission der Währung.“

Dies war ganz klar ein Aufruf zu einer Attacke auf Amerikas beherrschende Stellung in der Finanzwelt. Freilich kann man Putins Getöse auch einfach abtun. Ähnlich aufhorchen ließ er ja auch mit seinen früheren Drohungen mit einem Atomkrieg, wobei die Wirksamkeit dieses politischen Spiels mit dem Feuer jedoch rasch nachließ.  

Da die weltweiten finanziellen Anfälligkeiten jedoch mit Sicherheit weiter zunehmen werden, erscheinen Feindseligkeiten auf diesem Schauplatz des hybriden Krieges viel plausibler als der Einsatz von Atomwaffen. Wir können davon ausgehen, dass sich Amerikas Rivalen zunehmend auf die Macht des Narrativs verlassen werden, um Risse auf den wichtigsten westlichen Märkten aufzubrechen.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/dD905xade