Ist Indien auf die Wechselkursfreigabe seiner Währung vorbereitet?

Indiens Mut, sich in dem nun schon ein halbes Jahrhundert währenden zwielichtigen Streit um Kaschmir um Frieden zu bemühen, könnte bald von wirtschaftlichen Bestrebungen überboten werden, die gleichermaßen gewagt sind. Tatsächlich steht Indien am Rande einer wahrhaft mutigen wirtschaftlichen Reform: Der vollen internationalen Konvertierbarkeit seiner Rupie. Was dabei herauskommen wird, dürfte nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung Indiens beeinflussen, sondern auch China eine anschauliche Lehre erteilen, da es auch mit dem Gedanken spielt, in den nächsten Jahren die Wechselkurse freizugeben.

Seit 1991 hat Indien den Weg von der Abwertung der Rupie weg und in Richtung auf die volle Wechselkursfreigabe beschritten. Dabei hat die indische Notenbank (RBI) schon eine Reihe von Handelsbeschränkungen für Devisen gelockert. Die Einwohner Indiens können jetzt Devisenkonten führen und in Wertpapiere ausländischer Firmen investieren. Gleichzeitig dürfen Inder im Ausland ihre dort erworbenen oder geerbten Vermögenswerte nach Indien übertragen. Im Ausland registrierte indische Firmen können im Ausland Eigentum erwerben und Firmen im Inland dürfen ausländische Handelsschulden von bis zu 100 Millionen $ vorzeitig zurückzahlen. Die Beschränkungen, denen die Devisenkonten der Exporteure unterlagen, werden aufgehoben, und Banken können sich auf den überseeischen Geld- und Kreditmärkten betätigen.

Ist Indien auf die volle Wechselkursfreigabe vorbereitet? Im Inland ist die Regierung noch immer mit ihren Wirtschaftsreformen im Rückstand. Strukturreformen und Privatisierung haben sich verlangsamt und haben das Vertrauen der Investoren schwinden lassen. Doch das Versäumnis, strukturelle Probleme anzugehen, könnte die Wirtschaft auf lange Sicht Schockwellen aus dem Ausland ausliefern.

Daher wäre es für Indien verfrüht, die Kapitalkonten unmittelbar freizugeben. Wechselkursstabilität ist, solange ein Land im Reformprozess steckt, sein wichtigster Rückhalt. Es gibt andererseits kaum Hinweise darauf, dass die Freigabe der Kapitalkonten eine nennenswerte Auswirkung auf das Wachstum eines Landes hat.

Mit der Freigabe der Kapitalkonten wird der Wechselkurs der Rupie mehr von den Kapitalflüssen als von Unterschieden der Inflationsrate bestimmt, da Indiens Inflationsrate weitgehend mit der durchschnittlichen Inflationsrate der OECD von ungefähr 3 % übereinstimmt. Weil aber Indien immer noch ein Handelsdefizit beibehält, könnte die Rupie aufgrund irgendwelcher widriger Schocks unter Druck geraten. Auch wenn sich der Geldumlauf mehr als doppelt so schnell vermehrt wie das Bruttoinlandprodukt (BIP), ist das Inflationsrisiko wahrscheinlich doch gering, da noch erhebliche Überschusskapazitäten vorhanden sind. Tatsächlich kam es trotz zunehmenden Ausstoßes während der neunziger Jahre zur Deflation, was bedeutet, daß sich Indiens potentieller Warenausstoß stärker ausweitet.

Die Schritte in Richtung auf eine volle Freigabe der Kapitalkonten wurden in Übereinstimmung mit dem beeindruckenden Wachstum der Devisenreserven Indiens unternommen. Tatsächlich hat die Liquidität an Devisen in Indien im vergangenen Jahrzehnt dramatisch zugenommen. Als Ergebnis laufender Überschüsse auf den Umsatzkonten und der Unterschiede bei den Zinssätzen von 3-4 % beliefen sich die Devisenreserven Indiens Ende 2002 auf 70.3 Milliarden Dollar gegenüber 4 Milliarden $ im Jahr 1990. Sie reichen aus, um den Import von nahezu 15 Monaten zu decken.

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Nach der Zahlungsbilanzkrise des Jahres 1991 wurde die Rupie um etwa 20 % abgewertet. Exporteure konnten nur 30 % ihres Gewinnes zum Tageskurs umtauschen. Diese Regelung wurde später durch ein Zweistufensystem für Wechselkurse ersetzt, wodurch die Rupie teilweise konvertierbar wurde. Nun konnten 60 % der Exportgewinne zum Tageskurs und der Rest zu dem von der RBI festgelegten Kurs umgetauscht werden. (Dieser Kurs wurde von der Regierung dazu benutzt, wichtige Einfuhren wie Petroleum, Speiseöl, Düngemittel und lebenswichtige Medikamente zu finanzieren).

Das zweigeteilte Wechselkurssystem wirkte wie eine Exportsteuer; doch konnte es sich nicht lange halten und machte bald den Weg für einheitliche Wechselkurse im Bereich des Außenhandels frei. Die volle Konvertierbarkeit der Umsatzkonten folgte im August 1994. Die politische Diskussion wandte sich dann zur großen Freude des IMF und der Weltbank den Kapitalkonten zu. Im Mai 1997 skizzierte der Tarnpore-Ausschuss zur Konvertierung von Kapitalkonten einen Liberalisierungsprozess in drei Schritten, der zwischen 1999 und 2000 zum Abschluss kommen sollte. Er betonte dabei zugleich auch die Konsolidierung des Staatshaushalts, verbindliche Inflationsziele und ein starkes Finanzsystem.

Dann brachte die Währungskrise in Südostasien weitere Reformschritte zum Stillstand und weckte ernste Fragen, wann und ob man damit weiter machen solle. Die plötzliche Kernschmelze anscheinend gesunder Volkswirtschaften rief wieder nachdrücklich in Erinnerung, dass eine starke Liquidität an Devisen nicht den Anstoß in Richtung auf die volle Konvertierbarkeit der Währung geben solle. Die Folgerisiken der vollen Liberalisierung der Kapitalbewegungen sind schließlich stärkere Wechselkursschwankungen, und selbst Länder mit einer gesunden Liquidität konnten einen Ansturm auf ihre Reserven nicht abwehren.

Für Indien ergibt sich daraus die Lehre, dass die volle Wechselkursfreigabe im Falle eines Schockes im Inneren oder von außen sich als ein kostspieliger und kurzlebiger Versuch erweisen könnte. Die grundlegende Frage ist, ob die volle Wechselkursfreigabe netto einen höheren Zustrom oder Abfluss von Kapital anregen wird.

Das Folgerisiko größerer Kursschwankungen der Rupie wird durch einige ernsthafte Probleme verstärkt, dazu gehören ein Defizit, das bei 6 % des BIP liegt, und die militärischen Schwierigkeiten mit Pakistan. Ein kurzfristiger Rückzug des Kapitals - zu dem es kommen könnte, wenn eines der beiden Risiken wächst - könnte größere Ertragsschwankungen hervorrufen. Für Indien ist es also lebenswichtig, unabhängig davon, ob die Kapitalkonten frei oder gebunden sind, den Zustrom von langfristig angelegtem Kapital zu steigern.

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass China bei gebundenen Kapitalkonten über Devisenreserven von 286 Milliarden US-Dollar verfügt, sie sind viermal größer als die Indiens. Dabei ist Chinas Wirtschaft nur doppelt so umfangreich wie die indische. Auch ist die volle Wechselkursfreigabe nicht entscheidend, um einen höheren Zustrom ausländischer Direktinvestitionen (FDI) anzulocken. China zog im Jahr 2002 52.7 Milliarden $ an FDI ins Land, den größten Zustrom der Welt.

Indien muss mehr FDI ins Land bekommen. Sie helfen, die überschüssigen Kapazitäten in seiner Wirtschaft auszuschöpfen. Das unterstreicht, wie wichtig es für Indiens finanzielle Stabilität ist, seine Kapitalkonten erfolgreich zu verwalten (den Zu- und Abfluss von Kapital zu beobachten) und dabei jede Bewegung in Richtung auf die volle Freigabe der Wechselkurse abzuverfolgen. Doch ist auf kurze Sicht die volle Konvertierbarkeit seiner Kapitalkonten nicht im Interesse Indiens.

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