stiglitz327_SERGEI SUPINSKYAFP via Getty Images_ukraine damage SERGEI SUPINSKY/AFP via Getty Images

Russlands eingefrorenes Vermögen zu pfänden ist der richtige Schritt

NEW YORK: Während Russlands Krieg gegen die Ukraine regional und global weiterhin Chaos anrichtet, zeigen das ukrainische Volk und seine Verbündeten bemerkenswerte Entschlossenheit und Beherztheit. Doch fast zwei Jahre nach Beginn von Russlands großangelegter Invasion ist zunehmend klar, dass die internationale Gemeinschaft mehr tun kann und muss, um zu helfen.

Während die G7-Länder und andere Regierungen weltweit die ukrainischen Kriegsanstrengungen in außerordentlich großzügiger Weise unterstützt haben, zeichnet sich in einigen Kreisen eine zunehmende Ermüdung ab – eine Entwicklung, die Russland vorhergeahnt zu haben scheint. Da es die USA und die Europäische Union im Dezember verabsäumt haben, der Ukraine mehr als 100 Milliarden Dollar an Hilfen bereitzustellen, wurde als potenzielle Lösung erneut die Idee ins Spiel gebracht, Russlands durch die westlichen Länder eingefrorenes Vermögen zu pfänden.

Obwohl es die ukrainische Kampfmoral und Finanzlage stärken würde, tun sich die Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks hiermit schwer. Laut einem jüngsten Bericht in der New York Times fürchten leitende US-Regierungsvertreter, ein derartiger Präzedenzfall würde andere Länder abschrecken, ihr Geld bei der New York Federal Reserve zu hinterlegen oder es in Dollar zu halten.

Doch übersieht die Sorge, dass andere Regierungen aus Furcht vor einer Pfändung zögern könnten, ihr Geld in den USA zu deponieren, einige zentrale Punkte. Die Pfändung des eingefrorenen russischen Vermögens beträfe weder das Vermögen anderer Länder noch würde sie die Anreize für Regierungen verändern, die keinen großen Krieg planen. Zudem signalisieren die westlichen Länder, indem sie diese Gelder nicht pfänden, dass Regierungen, die brutale Angriffskriege führen, gegen internationales Recht verstoßen können und zugleich von diesem profitieren und so den Folgen ihres Handelns entgehen können. Stattdessen sollten die G7-Regierungen eine klare Botschaft aussenden: Kein Land kann beides haben. Derartige Pfändungen könnten als friedensschaffende Maßnahme wirken, indem sie andere böswillige Akteure vor Verstößen gegen das Völkerrecht abschrecken.

Wären die angeblichen negativen Auswirkungen einer Pfändung russischen Vermögens auf die Bereitschaft anderer Länder, Geld in den USA und Europa anzulegen, real, hätte sich das gezeigt, als die russischen Gelder Anfang 2022 eingefroren wurden. Es ist auffallend, dass es keine Kapitalflucht aus den USA oder Europa gab. Das lag auch daran, dass es kaum sichere Alternativen zum bestehenden Finanzsystem gibt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Regierungen Bedenken hätten, ihr Geld in den USA, Europa oder Japan anzulegen: Wo sonst sollten sie es hinterlegen? Selbst wenn sie Gesichtspunkte wie etwa Kapitalkontrollen beiseite stellen: Würden sie sich sicherer dabei fühlen, ihr Geld z. B. bei chinesischen Finanzinstituten zu hinterlegen?

Selbst wenn europäische und japanische Institute davon profitieren sollten, dass andere potenzielle „Schurkenstaaten“ beschlössen, keine Einlagen in den USA mehr zu tätigen, wären die finanziellen Auswirkungen zu vernachlässigen. Tatsächlich argumentieren viele Ökonomen, dass derartige Kapitalzuflüsse ein Kosten- und kein Nutzenfaktor sind. Da sie zu einer Währungsaufwertung führen, so ihre Argumentation, erschweren sie den Warenexport, konkurrieren mit Importen und vernichten auf diese Weise Arbeitsplätze.

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Sicherlich könnten einige Financiers Verluste erleiden. Doch besteht der größte Teil des in den USA deponierten Geldes schlicht aus Einlagen bei der Federal Reserve, von denen die Wall Street nicht direkt profitiert. Dasselbe gilt für Euroclear, die belgische Finanzeinrichtung, wo der größte Teil des russischen Vermögens hinterlegt ist.

Ein weiteres, verwandtes Argument gegen die Pfändung von Vermögen ist, dass diese nur einmal erfolgen könne, weil danach kein Land seine Devisenreserven oder sonstigen Vermögenswerte mehr in den USA oder der EU deponieren würde. Doch selbst wenn dem so wäre, würde dieses Argument nicht überzeugen: Ein Werkzeug, das man nicht nutzen kann, ist faktisch wertlos, und es gab nie einen angemesseneren Zeitpunkt, es zu nutzen, als jetzt.

Letztendlich muss Russland zur Verantwortung gezogen werden. Während es die Ukraine für die von ihm angerichteten Verheerungen nicht vollständig entschädigen kann, sollte es zumindest für die physischen Schäden aufkommen und die Kosten des Wiederaufbaus tragen. Wenn ein Mensch einen anderen durch eine unerlaubte Handlung schädigt, ist er zur Entschädigung verpflichtet. Dabei werden oft die Vermögenswerte der Täter gepfändet, um sicherzustellen, dass sie dieser Verpflichtung nachkommen. Derselbe Grundsatz gilt auch für Länder. Während die Pfändung von Vermögenswerten häufig ein komplexes Unterfangen darstellt, könnte sich der Fall Russlands als Ausnahme erweisen, da die zu pfändenden Vermögenswerte bereits eingefroren wurden.

Rechtsexperten mögen argumentieren, dass die Kreditvergabe an Kiew unter Verwendung des eingefrorenen Vermögens als Sicherheit ein besserer Ansatz wäre, da sie Russland zwänge, sich zwischen einer direkten Entschädigung der Ukraine und dem Verlust dieser Gelder zu entscheiden. Doch überlässt man derartige technische Feinheiten am besten den Anwälten. Tatsache ist, dass die Ukraine das Geld jetzt braucht, es sich unter westlicher Kontrolle befindet und es nichtzu nutzen, um der Ukraine zu helfen, diesen Krieg zu gewinnen und ihr Land wiederaufzubauen, unerhört wäre. Es ist unvernünftig, zu erwarten, dass die Steuerzahler und Spender in Europa, den USA und Asien die Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine tragen, wenn Russland selbst einen erheblichen (wenn auch unfreiwilligen) Beitrag leisten könnte.

Doch ist die konkrete Verwendung der konfiszierten Gelder zweitrangig. Während 90 % der amerikanischen Sicherheitsunterstützung für die Ukraine in den USA ausgegeben werden, könnte man das russische Vermögen nutzen, um die ukrainischen Streitkräfte vor Ort zu unterstützen und die massiven Wiederaufbaubemühungen zu finanzieren.

Es sollte selbstverständlich sein, dass die Pfändung des eingefrorenen russischen Vermögens den Westen nicht von seiner Verantwortung entbindet, der Ukraine Militärhilfe zu leisten; ohne einen Sieg kann es keinen Wiederaufbau geben. Trotzdem könnte die Tatsache, dass der Wiederaufbau der Ukraine letztlich eine Billion US-Dollar kosten könnte – mehr als dreimal so viel wie das eingefrorene Vermögen –, jene beschwichtigen, die noch immer zögern, es zur Finanzierung der Wiederaufbaubemühungen zu nutzen.

Natürlich kann selbst noch so viel Geld die immensen Schäden nicht wiedergutmachen, die Russlands Angriffskrieg Wirtschaft und Bevölkerung der Ukraine zugefügt hat. Doch kann man das eingefrorene Vermögen als Anzahlung auf die Reparationen betrachten, die zu leisten der Kreml letztlich gezwungen werden sollte.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/0eF4XDMde