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Soft Power nach dem Ukrainekrieg

CAMBRIDGE – Angesichts der russischen Raketen, die ukrainische Städte zerstören, und des Kampfes der Ukrainer ums Überleben ihres Landes sagen bekennende Realisten jetzt womöglich: „da habt ihr eure Soft Power“. Diese Reaktion verrät jedoch eine oberflächliche Analyse. Macht ist die Fähigkeit, andere dazu zu bringen, das zu tun, was man will. Jeder kluge Realist weiß, dass es dazu zwei Mittel gibt: Zwang oder Verlockung – sprichwörtlich Peitsche und Zuckerbrot.

Kurzfristig wirkt die Peitsche besser als das Zuckerbrot und Hard Power schlägt Soft Power. Wenn ich mit Hard Power an dein Geld will, bedroh ich dich mit einer Pistole und klaue deinen Geldbeutel. Ich bekomme das Geld, ganz egal, was du davon hältst. Mit Soft Power muss ich dich erst überreden, mir dein Geld zu überlassen. Das dauert länger und funktioniert auch nicht immer. Alles hängt davon ab, was du denkst. Aber wenn die Verlockung groß genug ist, kann man mit Soft Power viel leichter an das Geld anderer kommen. Langfristig bewährt sich das Zuckerbrot besser als die Peitsche.

Auch in der internationalen Politik zeigen sich die Erfolge von Soft Power eher langfristig und indirekt. Die Folgen von Bomben und Kugeln sehen wir sofort, die Anziehungskraft von Werten und Kultur womöglich erst nach langer Zeit. Trotzdem wäre es ein Fehler, diese Erfolge zu ignorieren oder zu leugnen. Kluge Politiker haben verstanden, dass auch Werte Macht bedeuten. Wenn ich dich dazu bringe, dasselbe zu wollen, wie ich, muss ich dich nicht zu etwas zwingen, das du nicht willst. Wenn ein Land Werte vertritt, die andere attraktiv finden, muss es weder Peitsche noch Zuckerbrot einsetzen.

Der Krieg in der Ukraine bestätigt diese Erfahrung. Kurzfristig dominiert in jeder Schlacht natürlich die nackte militärische Stärke. Russische Truppen sind aus Belarus im Norden und von der Krim im Süden ins Land eingedrungen. Dass es der Ukraine gelungen ist, ihre Hauptstadt Kiew zu schützen und die Invasion aus dem Norden auszubremsen, verdankt sie ihrer militärischen Klugheit und den Fehlern der Invasoren.

Ob der russische Versuch, in dieser neuen Kriegsphase den Süden und Osten des Landes zu erobern, erfolgreich sein wird, ist noch offen. Kurzfristig wird darüber die militärische Stärke der beiden Lager – d. h. auch das von den USA und anderen NATO-Ländern gelieferte Kriegsgerät – und die Ausübung wirtschaftlichen Zwangs entscheiden. Zwar konnte die Androhung von Handels- und Finanzsanktionen Wladimir Putin nicht von seinem Angriff abschrecken. Die inzwischen verhängten Sanktionen schwächen jedoch die russische Wirtschaft und die Androhung sekundärer Sanktionen hält China und andere Länder davon ab, Russland militärisch zu unterstützen.

Aber auch Soft Power spielt in dem Konflikt eine Rolle. Jahrelang haben Vertreter der USA Deutschland dazu gedrängt, das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 aufzugeben und gewarnt, die Pipeline würde die Abhängigkeit Europas von russischem Erdgas erhöhen und aufgrund ihres Verlaufs durch die Ostsee die Ukraine schwächen. Deutschland blieb stur. Dann jedoch kam der Schock der russischen Invasion. Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung haben Russland in den Augen der deutschen Öffentlichkeit so diskreditiert, dass die Regierung das Projekt aufgegeben hat.

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Auch drängen die USA schon lange darauf, dass Deutschland seine Verpflichtung als NATO-Mitglied erfüllt und seine jährlichen Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts erhöht. Auch hier stellte sich Deutschland quer, bis die Invasion die deutsche Politik zu einer abrupten Kehrtwende gezwungen hat.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich beim Einsatz von Soft Power als besonders geschickt erwiesen. Als die USA anboten, ihn aus dem Land zu schaffen, antwortete er bekanntlich, er brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.

Dabei kommen Selenskyj seine früheren Erfahrungen als Schauspieler zugute. Dank seiner lässigen Kleidung und ständiger Kommunikation mit westlichen Medien und Parlamenten ist es ihm gelungen, die Ukraine als attraktives und heroisches Land darzustellen. Das Ergebnis ist nicht nur die Sympathie des Westens, sondern auch deren zunehmende Bereitschaft, der Ukraine die Militärgüter zu liefern, die sie gerade so dringend braucht.

Außerdem hat das Bekanntwerden russischer Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung in Orten wie Butscha, einem Vorort von Kiew, Russlands Soft Power beschädigt und der Ukraine weitere Unterstützung durch den Westen gesichert. Wie sich dies langfristig auf Russlands Soft Power auswirkt, werden wir noch sehen. Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben bereits Resolutionen verabschiedet, die Russlands Krieg verurteilen und seine Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat aussetzen. Allerdings hatte sich fast ein Drittel der Länder, davon viele afrikanische Staaten, der Stimme enthalten.

Auch Indien, die größte Demokratie der Welt, konnte sich nicht zu einer Verurteilung Russlands durchringen. Das Land will weder auf russische Militärgüter verzichten noch Russland China in die Arme treiben, das in Indien als größte geopolitische Bedrohung wahrgenommen wird. China seinerseits enthielt sich bei der Verurteilung der Invasion durch die UN, stimmte jedoch gegen die Aussetzung der russischen Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat und verbreitet mit seiner enormen Medienmacht russische Kriegspropaganda.

Wohin das langfristig führen wird, hängt zum Teil vom Ausgang des Krieges ab. Manche Dinge geraten schnell in Vergessenheit. Zurzeit scheinen Russland und China jedoch an Soft Power zu verlieren. In den Monaten vor der Invasion hatten beide Länder ihre Achse des Autoritarismus gefestigt und China hatte angekündigt, der Ostwind werde den Westwind besiegen. Dieser Slogan klingt heute in vielen Ohren weit weniger attraktiv.

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