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Das Leben in Trumps Welt

BERLIN – Während sich die Führungsspitzen Europas allmählich der Realität einer bevorstehenden Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus stellen, gilt es für sie, zwei gefährliche Fallen zu vermeiden: Panik und Verleugnung. Einfach wird das nicht, aber es steht zu viel auf dem Spiel, als dass man sich einen Fehlschlag leisten könnte.

Die Gründe für die Panik liegen auf der Hand. Trump mag unberechenbar und sprunghaft sein, aber es bestehen kaum Zweifel, dass seine politischen Instinkte und erklärten Pläne die Grundpfeiler der europäischen Sicherheits- und Wirtschaftsordnung sowie der politischen Ordnung erschüttern werden.

Im Hinblick auf die Sicherheitsfrage haben die Europäer allen Grund zu befürchten, dass Trumps angestrebter „Friedensplan“ die Ukraine ihrer territorialen Integrität berauben, sie entmilitarisieren und dauerhaft aus der Nato ausschließen wird. Auch die Nato selbst könnte durchaus „in den Schlafmodus“ versetzt werden, wenn Amerika seine Beteiligung radikal zurückfährt und die Verantwortung für das militärische Kommando und die Ressourcen der Allianz an die Europäer überträgt.

Im Nahen Osten befürchtet Europa zu Recht, dass Trumps Plan zur Friedenssicherung darauf hinausläuft, die Expansionspläne der extremistischen Koalition des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu zu unterstützen. Das könnte vielleicht sogar die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland sowie ihre Umsiedlung nach Ägypten und Jordanien einschließen.

Noch beängstigender erscheinen die wirtschaftlichen Szenarien. Trump hat davon gesprochen, einen allgemeinen Einfuhrzoll von 10–20 Prozent sowie Zölle in der Höhe von 60 Prozent auf Waren aus China einzuführen. Eine Politik dieser Art birgt die Gefahr eines globalen Handelskrieges, im Rahmen dessen Regierungen Vergeltungsmaßnahmen gegen die USA ergreifen. Wird China vom US-Markt ausgeschlossen, wären die Europäer noch anfälliger für die Angebotseffekte der chinesischen Produktionsüberkapazitäten.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Reaktion Europas auf eine weitere Präsidentschaft Trumps durch die „illiberale Internationale“ erschwert werden könnte, der etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni angehören.

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Aus all diesen Gründen sind die europäischen Führungsspitzen der Panik nahe und versucht, nach Washington zu eilen, um bilaterale Abkommen abzuschließen – wie es viele während der ersten Amtszeit Trumps getan haben. Sollte das passieren, wird dies direkt zu Lasten der europäischen Einheit gehen.

Genauso gefährlich präsentiert sich jedoch die zweite Falle. Falls die europäische Spitzenpolitik das Ausmaß der Bedrohung durch Trump verleugnet, wird man die für den Aufbau der Widerstandsfähigkeit erforderlichen Maßnahmen nicht ergreifen. Die Europäer wissen seit vier Jahren, dass Trump zurückkehren könnte und sie haben hinsichtlich der Bewältigung ihrer neuen geopolitischen Verwundbarkeit auch einige Fortschritte erzielt, etwa durch höhere Verteidigungsausgaben (insgesamt geben die Europäer jetzt mehr als 2 Prozent ihres BIP für Verteidigung aus) sowie durch die Diversifizierung ihrer Energieversorgung weg von russischem Gas. Insgesamt jedoch geht alles viel zu langsam.

Einige sind von falschem Selbstvertrauen getragen und sagen sich, dass sie bereits eine Amtszeit Trumps durchgestanden haben und deshalb auch eine weitere überleben können. Doch der Trump der Jahre 2017–2020 war ein Außenseiter, der von seiner eigenen Wahl überrascht worden war und sich nach Anerkennung durch das Establishment sehnte. Dieses Mal ist er fest entschlossen, sich am Establishment zu rächen, das ihn zuvor ausgebremst hat, und er hatte viel Zeit, sich auf sein Amt vorzubereiten. Die Führungsspitzen Europas sollten ihn beim Wort nehmen und sich wappnen.

Angesichts dieser Szenarien besteht die dringendste Aufgabe der europäischen Spitzenpolitik darin, die rund 70 Tage bis zum 20. Januar 2025 zu nutzen, um sich auf ihre gemeinsamen Interessen zu einigen und festzulegen, wie sie diese verteidigen können – wenn möglich gemeinsam mit den USA, aber wenn nötig auch allein. Das bedeutet, einen konkreten Plan zu entwerfen, um Europa sowohl vor sicherheitspolitischen als auch vor wirtschaftlichen Belastungen zu schützen.

Das akuteste Problem ist die Ukraine. Um ein Abkommen zu verhindern, im Rahmen dessen die Ukraine entmilitarisiert und aus der Nato ausgeschlossen wird, muss Europa kurzfristig den kontinuierlichen Nachschub an Munition und Luftabwehrsystemen gewährleisten und der Ukraine gleichzeitig glaubwürdige langfristige Sicherheitsgarantien bieten. Zudem muss geklärt werden, wie man effizienter in die Verteidigung investieren kann, wie die Zahl der für die Nato und die Europäische Union verfügbaren einsatzbereiten Streitkräfte zu erhöhen sind und – falls erforderlich – in welcher Weise die eigene nukleare Abschreckung gestärkt werden kann.

Die zweitgrößte Herausforderung betrifft den Handel. Sollte Trump sein Versprechen einlösen und pauschale Importzölle erheben, ist ein Handelskrieg zwischen der EU und ihrem größten Exportmarkt unvermeidlich. In einer Welt, in der Geopolitik und Geoökonomie immer stärker miteinander verflochten sind, sollte die EU Gegenmaßnahmen gegen die USA vorbereiten und versuchen, den Handel mit dem Rest der Welt auszubauen.

Trumps Sieg verändert auch den Kontext der Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich völlig. Seit dem Amtsantritt der Labour Party im Juli haben die Kontakte über den Ärmelkanal hinweg deutlich zugenommen. Jetzt sollte jedoch ein beschleunigter Vorstoß unternommen werden, um dem Vereinigten Königreich ein umfassendes, ambitioniertes Angebot zur Schaffung einer neuen Partnerschaft zu unterbreiten.

Der britische Premierminister Keir Starmer sollte sich seinerseits dazu bekennen, auf ein erstarktes und einigeres  Europa hinzuarbeiten. Für ihn gilt es, alles auf den Tisch legen, darunter auch die Klärung der Frage, wie Großbritanniens nukleare Abschreckung zur kollektiven europäischen Sicherheit beitragen kann. Und er sollte aufzeigen, welchen Beitrag das Vereinigte Königreich leisten kann, wenn es darum geht, Europas Macht und Sicherheit zu stärken, unter anderem durch Zusammenarbeit in den Bereichen Sanktionen, Technologiekontrollen, Lieferketten, kritische Rohstoffe, Energiesicherheit, Migration und gemeinsames Vorgehen gegen Banden und Menschenhändler.

Damit dies gelingt, werden die größten EU-Mitgliedstaaten – Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und Spanien – ihre jeweilige innenpolitische Agenda hintanstellen und einen gesamteuropäischen Konsens erzielen müssen. Eine deutsche Führungsrolle – sei es durch die derzeitige Regierung oder durch eine neue, von den Christdemokraten geführte Koalition nach den Frühjahrswahlen – ist wichtiger denn je, aber auch die kleineren, exponierteren nord- und osteuropäischen Länder werden eine wichtige Rolle zu spielen haben. Dementsprechend sollten sie innerhalb der EU eine Fraktion bilden, um mit den offiziellen Vertretern in Brüssel zusammenzuarbeiten und das „geopolitische Europa“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Die Reaktion Europas auf Trumps Rückkehr wird Kreativität, Widerstandsfähigkeit und ein unerschütterliches Engagement für die Verteidigung seiner Interessen erfordern. Jede Krise bietet eine Chance, und die Europäer haben nun die Möglichkeit, eine stärkere, eigenständigere Union zu schaffen, die in einer Zeit globaler Verwerfungen für sich selbst stehen kann.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/AZtSdMqde