Amerika, der Paria

Als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten im Jahr 1977 den Bundesstaaten die Wiedereinführung der Todesstrafe erlaubte — die er zuvor als nicht verfassungskonform erkannt hatte — forderte er die Einhaltung strenger Verfahrensbestimmungen. Seit damals verfolgt der Gerichtshof jedoch einen weitgehend legeren Ansatz in der Handhabung der Todesstrafe. Die Ablehnung von Beschwerden, die sich auf wohlbegründete Verdachtsmomente rassischer und sozialer Voreingenommenheit, unzulängliche Verteidigung, Vorenthaltung des Rechts auf konsularische Betreuung und Geistesschwäche des Angeklagten stützen, zeugt nicht gerade von der Einhaltung strenger Bestimmungen.

Während durch die Rechtsprechung amerikanischer Gerichte also die Zahl der Hinrichtungen zunahm, bewegte sich der größte Teil der restlichen Welt (108 Länder insgesamt) in die entgegengesetzte Richtung. Die Abschaffung der Todesstrafe ist ein Eckpfeiler der europäischen Menschenrechtspolitik und in diplomatischen Demarchen kritisiert die Europäische Union mit schöner Regelmäßigkeit die Praxis der Todesstrafe in den USA. In etlichen europäischen Hauptstädten führte die Empörung über die Todesstrafe in Amerika zu wütenden Demonstrationen und ein früherer amerikanischer Botschafter berichtet, dass seiner Botschaft eine Petition gegen die Todesstrafe mit 500.000 Unterschriften der einheimischen Bevölkerung übergeben wurde.

Als ehemaliger oberster amerikanischer Verantwortlicher für Menschenrechte kann ich bestätigen, dass es sich hierbei nicht nur um unbedeutende diplomatische Verstimmungen handelt. Bei wichtigen Zusammenkünften zwischen Vertretern Amerikas und seiner Verbündeten steht zunehmend die Beantwortung offizieller Protestnoten gegen die Todesstrafe im Vordergrund. Tatsächlich schwächt die Todesstrafe den moralischen Führungsanspruch Amerikas in internationalen Menschenrechtsfragen und trug wahrscheinlich auch dazu bei, dass Amerika kürzlich seinen Sitz in der UNO-Menschenrechtskommission verlor, was allgemeines Aufsehen erregte.

Noch schwerer wiegt allerdings, dass die amerikanische Praxis der Todesstrafe jenen Ländern diplomatische Munition liefert, in denen es um die Situation der Menschenrechte noch viel schlechter bestellt ist. China beispielsweise weist internationale Kritik an seiner fürchterlichen Praxis regelmäßig mit dem Hinweis auf die Todesstrafe in Amerika zurück. Als vor kurzem fälschlicherweise berichtet wurde, dass geistig zurückgebliebene Delinquenten nur in Kirgistan und den Vereinigten Staaten hingerichtet werden dürfen, beeilte sich der kirgisische Botschafter in Washington, die Dinge klarzustellen. Ungeachtet der langen Liste an Menschenrechtsverletzungen unter dem kirgisischen Präsidenten Askar Akajew unterstrich der Botschafter, dass sich Kirgistan seit 1999 an ein Moratorium zur Aussetzung der Todesstrafe halte.

Ein beim Obersten Gerichtshof der USA anhängiges Verfahren, McCarver gegen North Carolina , wird zeigen, ob Amerika in dieser Angelegenheit weiterhin international isoliert sein wird. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren wird der Oberste Gerichtshof darüber zu befinden haben, ob die Hinrichtung geistig zurückgebliebener Delinquenten das in der Verfassung verankerte Verbot von „grausamer und unangemessener” Bestrafung verletzt, das der Gerichtshof gemäß den „sich fortwährend weiterentwickelnden sittlichen Normen, die den Fortschritt einer reifer werdenden Gesellschaft kennzeichnen” interpretiert. Als dieses Thema das letzte Mal vor Gericht kam, lehnte es der Oberste Gerichtshof ab, solche Hinrichtungen durch eine kategorische Regelung zu verhindern, erkannte jedoch, dass „ein nationaler Konsens gegen die Hinrichtung geistig Zurückgebliebener eines Tages möglicherweise zustande kommen werde”.

Nun verdichten sich die Anzeichen, dass ein derartiger Konsens zustande gekommen ist. Im Jahr 1989 hatten nur zwei Bundesstaaten und die Bundesregierung das Hinrichtungsverbot geistig zurückgebliebener Delinquenten gesetzlich verankert. Heute verbieten schon 15 Bundesstaaten und die Bundesregierung diese Hinrichtungen per Gesetz. Zwei weitere Bundesstaaten haben diesbezügliche Gesetze verabschiedet, die nur noch der Unterschrift der jeweiligen Gouverneure bedürfen. Zusammen mit jenen 12 Staaten (und Washington D.C.), in denen die Todesstrafe überhaupt verboten ist, ergibt sich nun, dass eine klare Mehrheit der amerikanischen Gerichtsbarkeiten diese Praxis der Todesstrafe verbietet.

Im Fall McCarver haben sich neun hochrangige frühere US-Diplomaten, die es gemeinsam auf beinahe 200 Dienstjahre unter republikanischen und demokratischen Präsidenten bringen, entschlossen, ihre Stimme zu erheben. Sie sagten vor Gericht aus, dass die Hinrichtungen geistig zurückgebliebener Gefängnisinsassen diplomatische Verstimmungen auslöse, Amerika seine Verbündeten damit vor den Kopf stoße, das Image Amerikas als Führungsmacht im Menschenrechtsbereich beschädige und weiter reichenden außenpolitischen Interessen Amerikas schade.

Zunächst reagierte Präsident George W. Bush auf die Äußerungen der Diplomaten, indem er meinte, dass wir „niemals jemanden hinrichten sollten, der geistig zurückgeblieben ist”, und dies, obwohl er als Gouverneur von Texas gegen Gesetze zum Verbot dieser Hinrichtungen auftrat und auch Gnadengesuche für geistig zurückgebliebene Verurteilte abwies. Später behauptete er beharrlich, dass „unsere Rechtsprechung Menschen schützt, die weder das Wesen des von ihnen begangenen Verbrechens noch die daraus resultierende Bestrafung verstehen”.

Diese rechtlichen Schutzmaßnahmen sind jedoch zum Schutz Geisteskranker , nicht aber geistig Zurückgebliebener gedacht. In einigen Bundesstaaten ist es noch immer erlaubt, über eine Person die Todesstrafe zu verhängen, die alle Kriterien geistiger Retardierung erfüllt – nämlich einen IQ unter 70, gering ausgeprägte Lernfähigkeit und frühe Ausprägung dieser Eigenschaften – wenn eine persönliche Schuldfähigkeit trotz der entwicklungsbedingten Behinderung des Delinquenten gegeben erscheint. Mindestens 6 der 35 in den USA seit 1976 gefällten Todesurteile gegen geistig zurückgebliebene Delinquenten wurden in Texas vollstreckt, eines davon, während sich der damalige Gouverneur Bush mitten im Präsidentschaftswahlkampf befand.

Präsident Bush kann nicht weiter tatenlos zusehen. Wenn er aufrichtig der Meinung ist, dass geistig Zurückgebliebene niemals hingerichtet werden dürfen, dann sollte er seinem Justizministerium entsprechende Anweisungen erteilen, dem Obersten Gerichtshof eine Darlegung der Beweisgründe vorzulegen, die gegen McCarvers Hinrichtung eintritt. Weiterhin sollte er die Gouverneure dazu bewegen, derartige Hinrichtungen zu verbieten. Ob und in welcher Weise Präsident Bush seine widersprüchlichen Aussagen auf einen gemeinsamen Nenner bringt, könnte für Ernest Paul McCarver, einem erwachsenen Mann mit dem Verstand eines Zehnjährigen, über Leben und Tod entscheiden.

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