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Spion & Spion

GLOUCESTER, MASSACHUSETTS – Die wissenschaftliche Erforschung der Rolle von nachrichtendienstlichen Operationen lässt unweigerlich an den Rashomon-Effekt denken, der besagt, dass ein und dasselbe Ereignis in verschiedenen Versionen dargestellt und manchmal widersprüchlich interpretiert wird. Die Welt der Nachrichtendienste dreht sich schließlich um Geheimnisse, Abteilungen mit speziellen Zugangsrechten, verdeckte Aktionen, heimliche Beziehungen und gelegentlich inoffizielle Eskapaden. Das macht es ausgesprochen schwierig, Erfolge und Misserfolge zu beurteilen und zu dokumentieren, welche Rolle Spionage bei den Entscheidungen der Politik gespielt hat.

Der Harvard-Historiker Calder Walton stellt sich dieser Herausforderung in seinem neuen Buch Spies: The Epic Intelligence War Between East and West (Simon & Schuster, 2023), das den Aufstieg und die Rolle der modernen Geheimdienste anhand der Geschichte des Wettbewerbs zwischen dem Westen und russischen Sicherheitsdiensten nachzeichnet. Es ist eine anspruchsvolle und unterhaltsame Geschichte, die zugleich auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage basiert. Tatsächlich wirft Waltons Schilderung neues Licht auf scheinbar gut erforschte Ereignisse, von der Russischen Revolution und dem Zweiten Weltkrieg bis hin zum Einsatz von Maulwürfen in den Reihen amerikanischer, britischer und russischer Geheimdienste am Ende des Jahrhunderts.

Walton stützt sich auf neu geöffnete Archive, ehemals geheime interne Berichte, Memoiren und Interviews mit politischen Entscheidungsträgern und Spionen. So beleuchtet er, wie Geheimdienste zu Ereignissen wie der Kubakrise von 1962 und dem Able Archer-Zwischenfall von 1983 beitrugen, als eine NATO-Übung sowjetische Ängste vor einem westlichen Erstschlag auslöste und die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte.

Doch Walton belässt es nicht dabei, alte Berichte um bislang geheime Details zu ergänzen. In einem Beispiel für „angewandte Geschichte“ nutzt er seine Untersuchung der Vergangenheit, um sich zu aktuellen Ereignissen wie dem Ukraine-Krieg zu äußern und wichtige Fragen über die Zukunft aufzuwerfen, einschließlich der, ob sich westliche Geheimdienste im neuen Kalten Krieg gegen China durchsetzen können.

Spies beschreibt detailliert den Aufstieg und die Rolle der russischen Geheimdienste, von Lenins Geheimpolizei Tscheka über Stalins KGB bis zu ihren postsowjetischen Inkarnationen. Es bietet neue Einblicke in ihre nationalen und internationalen Missionen, von der mörderischen Rolle des KGB-Vorgängers NKWD bei Stalins Großer Säuberung bis hin zur Unterwanderung des Manhattan-Projekts durch sowjetische Spione, die Geheimnisse sammelten, die für Moskaus atomaren Durchbruch entscheidend waren. Und es wird beschrieben, wie der russische Auslandsgeheimdienst SVR und der Inlandsgeheimdienst FSB, die Nachfolger des KGB, immer noch Leitlinien aus der Sowjet-Ära verwenden, um ihre Spionage, Desinformation und verdeckten Aktionen im Ausland und die Repression im Inland zu steuern.

Dank Präsident Wladimir Putin – selbst ein ehemaliger KGB-Mann – dominieren ehemalige KGB-Mitarbeiter die russische Elite, einschließlich der korrupten Wirtschaftsoligarchie, und leiten die mächtigen Zwangsinstitutionen, die Russland in einen autoritären Sicherheitsstaat verwandeln. Unabhängig von ihrer Bezeichnung waren Russlands Sicherheitsdienste das Rückgrat seiner herrschenden Regime im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert.

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Doch wie Walton zeigt, haben Russlands Geheimdienste seit jeher erhebliche Schwächen, die nicht zuletzt in einer totalitären Kultur wurzeln, die es unmöglich macht, der Macht die Wahrheit zu sagen. Von den tödlichen Säuberungen, die in den 1930er-Jahren bis tief in den NKWD hineinreichten, bis hin zur zentralisierten Entscheidungsfindung von oben nach unten in Putins Kreml ist die Botschaft an das Fußvolk einfach geblieben: Sag, was dein Vorgesetzter hören will, denn unverblümte Berichterstattung und Analyse können nicht nur Karrieren beenden, sondern tödliche Folgen haben.

Walton zufolge bedeutete die lähmende Konformität, von der die Einschätzungen der sowjetischen Geheimdienste geprägt waren, dass sie bei der Entscheidungsfindung des Kremls im Kalten Krieg allenfalls eine marginale Rolle spielten. Die Diskrepanz zwischen gebilligten Narrativen und der Realität hat auch zu bedeutenden strategischen Fehlern geführt, wie etwa Stalins Zurückweisung der nachrichtendienstlichen Warnung vor Hitlers bevorstehender Invasion im Jahr 1941 und Putins katastrophaler Entscheidung, 2022 in die Ukraine einzumarschieren.

Waltons historische Perspektive bietet zudem einen wertvollen Rahmen, um zu beurteilen wie Russlands westliche Kollegen abgeschnitten haben. Er behauptet von vornherein, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs die Angreifbarkeit ihrer offenen Gesellschaften und das Ausmaß der Bedrohung durch den sowjetischen Geheimdienst erst spät erkannt haben.

Tatsächlich hatte der US-Geheimdienst einen schwierigen Start. Als die Central Intelligence Agency 1947 gegründet wurde, war der Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, Omar Bradley, verärgert darüber, dass man ihm nicht die Verantwortung übertragen hatte. Also tat er sich mit dem FBI-Direktor J. Edgar Hoover zusammen, der selbst kein Fan des neuen Geheimdienstes war, um den Direktor der CIA, Roscoe Hillenkoetter, im Dunkeln zu lassen. So wurde Hillenkoetter weder über das streng geheime Venona-Projekt noch über die Erkenntnisse informiert, die die Kryptologen des Projekts aus Geheimnachrichten offizieller sowjetischer Stellen in den USA entschlüsselten und die weitreichende sowjetische Spionage vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben. Dieses „Chaos“ der US-Geheimdienste, wie Walton es treffend nennt, dauerte bis 1952.

Natürlich hielten die bürokratischen Rivalitäten und politischen Streitigkeiten auch dann noch an, als die US-Geheimdienste heranreiften. Doch auch die Ambivalenz in der Bevölkerung hat die Entwicklung der amerikanischen Nachrichtendienste beeinflusst, aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über ihre Rolle in einer Demokratie sowie jahrzehntelange Kontroversen über fehlgeschlagene verdeckte Aktionen und Stellvertreterkriege im Ausland bis hin zum Machtmissbrauch im eigenen Land.

Da eine Welt im Wandel die Sicherheitslandschaft transformiert, werden Staatsführer auf die Kooperation der Öffentlichkeit angewiesen sein. Doch die tiefe Polarisierung und das wachsende Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Regierung, veranschaulicht (aber nicht beschränkt auf) diejenigen, die den Behauptungen des ehemaligen Präsidenten Donald Trump über den sagenumwobenen „tiefen Staat“ Glauben schenken, stellen erhebliche Hürden dar und bedrohen Amerikas Demokratie und internationale Rolle.

Walton erkennt diese Gefahr, ist aber weitaus besorgter über die Bedrohung, die China in einer zunehmend technologiegetriebenen Welt darstellt. Hier nimmt Walton kein Blatt vor den Mund. Die US-Führung habe Chinas massive Geheimdienstoffensive an verschiedenen Fronten ignoriert, die Sammlung von Informationen und die Spionageabwehr unterfinanziert und die wirtschaftliche, technologische und strategische Herausforderung heruntergespielt, die das Reich der Mitte darstellt. „Wenn ich sagen sollte, wo wir heute (in Bezug auf China) stehen“, schreibt er, „würde ich uns ungefähr im Jahr 1947 verorten“.

Gleichwohl fehlt Waltons Argumentation für Maßnahmen gegen China die Tiefe der Analyse, die seine Urteile über Russland untermauert. Und seine Empfehlungen für künftige nachrichtendienstliche Bemühungen – basierend auf den „Lehren“ der vergangenen 100 Jahre – sind zwar anregend, aber nicht überzeugend. „Das Zeitalter des Geheimdienstes ist vorbei“, schreibt er in seiner Schlussfolgerung. „In einer Welt, die zunehmend von Open-Source-Informationen dominiert wird, liegt die Zukunft der Nachrichtendienste im privaten Sektor, nicht bei den Regierungen.“ Das mag sein. Doch Waltons Glaube an Technologie als Wunderwaffe der Geheimdienstwelt und an die Überzeugungskraft, mit der die Unterstützung von Unternehmen gewonnen werden kann, die täglich demonstrieren, dass sie den chinesischen Markt nicht verlassen wollen, lassen Skepsis aufkommen.

In Anlehnung an Mark Twain merkt Walton an, dass sich die Geschichte vielleicht nicht wiederholt, aber durchaus manchmal reimt. Es bleibt abzuwarten, ob Hightech-Tools und das Sammeln von Informationen aus frei verfügbaren, offenen Quellen oder klassische Spionage den Ländern liefern werden, was sie brauchen. Eins steht allerdings fest: In jeder demokratischen Gesellschaft ist die Unterstützung der Bevölkerung und der Politik für die Nachrichtendienste ausschlaggebend. Der Erfolg eines jeden Geheimdienstes beginnt im eigenen Land.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

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