PARIS – Europa erlebt derzeit einen Moment von historischer Bedeutung. Bis zum Jahresende wird sich die Zahl der Asylbewerber in der Europäischen Union auf über eine Million erhöhen. Trotz des furchtbaren Leids, das mit dieser Flüchtlingskrise verbunden ist, haben die europäischen Regierungen, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmefällen, bislang bestenfalls zaghaft reagiert. Man räumt ein, dass mehr getan werden muss, doch gleichzeitig herrscht Angst vor den Folgen.
Einige Politiker befürchten, dass die Kommunen und Steuerzahler mit der Last überfordert sein könnten. Andere haben Angst vor Extremisten, die als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen. Vor allem aber fürchten viele die öffentliche Meinung. Trotz der herzlichen Begrüßungsszenen und der anhaltenden Unterstützung für Asylbewerber stehen viele noch größeren Zuwandererzahlen aus von Kriegen heimgesuchten, instabilen Ländern weiterhin zögernd oder sogar ablehnend gegenüber. Vor allem wenn die Zuwanderer einer anderen Glaubensrichtung angehören.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs können sich solche Furcht nicht leisten. Sie können vor der Flüchtlingskrise nicht die Augen verschließen. Es wird keine Zauberlösung geben, dank der mehr als eine Million Menschen über die Ägäis und den Bosporus zurück nach Mosul und Aleppo oder über das Mittelmeer zurück nach Eritrea, Somalia oder in den Sudan geschickt werden können.
Durch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen und den Bau von Grenzzäunen gewinnen einige überlastete Staaten zwar etwas Zeit, aber niemand darf ernsthaft erwarten, dass sich Menschen, die so verzweifelt sind, dadurch aufhalten lassen. Angesichts der schrecklichen Bedingungen in ihren Herkunftsländern könnte selbst bei strengsten Vorschriften die Hälfte der Asylbewerber die Kriterien für eine Aufenthaltsbewilligung erfüllen. Ungeachtet der Sensibilität oder Ambivalenz der öffentlichen Meinung müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs daher eine mutige, koordinierte und gemeinsame Lösung finden.
Dabei sind vor allem drei Aufgaben zu erfüllen. Zum ersten muss eine Einigung über die gerechte Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas erzielt werden. Trotz der Vielzahl an verzweifelten Menschen muss sichergestellt werden, dass sie eine Unterkunft, Nahrung und Unterstützung bekommen. Das alleine ist schon schwierig genug.
Die zweite Aufgabe ist, mit der Integration der Flüchtlinge in die europäische Gesellschaft und Wirtschaft zu beginnen. Einige Flüchtlinge werden relativ problemlos Arbeit finden. Ein syrischer Bauingenieur mit Universitätsabschluss muss nach seiner Ankunft in München vielleicht ein wenig Deutsch lernen, aber danach wird er nicht lange warten müssen, bis ihm die ersten Arbeitgeber eine Stelle anbieten. Andere Asylsuchende sind weniger gut ausgebildet und vielfach auch durch ihre Kriegs- und Fluchterlebnisse traumatisiert. Ihre Integration wird Zeit und Mühe erfordern und bei vielen Wählern auf Skepsis treffen, zumal eine erfolgreiche Integration oder Assimilierung mit erheblichen Kosten verbunden ist Diese Investitionen in die Aufnahme und Integration der Asylsuchenden von heute könnten für das Europa von morgen aber auch viele Vorteile bedeuten.
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Die Arbeit der OECD zeigt, dass sich Migration bei entsprechender Organisation durchaus positiv auf Wachstum und Innovation auswirken kann. Bisher ließ der Umgang mit Zuwanderung leider oft organisierte Strukturen vermissen: Migranten wurden unter Ghetto-ähnlichen Zuständen konzentriert untergebracht, sie litten unter mangelnder Grundversorgung und schlechten Beschäftigungsaussichten.
Dennoch belegen die Daten aus den 34 Mitgliedsländern der OECD, dass Migranten im Allgemeinen mehr Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, als sie in Form individueller Leistungen empfangen. Wir haben heute ein Policy Brief zu der aktuellen Flüchtlingskrise herausgegeben. Kurz gesagt braucht Europa die Migranten und ihre neuen Kompetenzen. Andernfalls werden sich die europäischen Staaten angesichts rückläufiger Bevölkerungszahlen schwer tun, in Zukunft für Rentenzahlungen und Gesundheitskosten aufzukommen – bereits von 2000 bis 2010 waren 65 % des Wachstums der Erwerbsbevölkerung in der EU auf Zuwanderung zurückzuführen.
Vielfach wird argumentiert, dass Flüchtlinge, die nicht über die von der Wirtschaft geforderten Kompetenzen verfügen, schwieriger zu integrieren sein werden als andere Neuankömmlinge. Das mag stimmen. Aber dank der Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir heute wesentlich besser, was bei der Neuansiedelung von Migranten funktioniert, und können dadurch hoffentlich frühere Fehler vermeiden – u.a. durch Dokumentation und Verbreitung der Erfahrungen von Ländern, in denen die Herausforderungen der Zuwanderung erfolgreich bewältigt wurden.
Und damit komme ich zur dritten und größten Aufgabe der politisch Verantwortlichen in Europa: dem Umgang mit der Furcht vor Migranten. Integration ist eine Voraussetzung für die öffentliche Akzeptanz der legalen Zuwanderung in der Zukunft. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass „wir“ integriert sind, die „Anderen“ nicht. Dabei hat nahezu jeder Bürger selbst eine Migrationsgeschichte in der Familie, die oft nur wenige Generationen zurückliegt. Der Unterschied zwischen „uns“ und „denen“ ist nicht so groß, wie wir oft annehmen.
Keiner der heutigen Staats- und Regierungschefs hat mit einer menschlichen Tragödie gerechnet, wie wir sie derzeit im Mittelmeerraum und in weiten Teilen Europas erleben. Die Bürger und die Geschichtsbücher werden sie jedoch danach beurteilen, wie sie darauf jetzt reagieren.
Hier geht es nicht um Zahlen. Die politisch Verantwortlichen sollten den Blick von Zuwanderungszahlen und Unterbringungszielen lösen und stattdessen überlegen, mit welchen Maßnahmen sich die Neuankömmlinge in Gesellschaft und Wirtschaft integrieren lassen. Sie müssen ihre Führungsposition nutzen, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Migranten – vor allem die am meisten schutzbedürftigen – mehr geben als nehmen. Wir alle täten gut daran, in dieser Krisenlage an die Worte des mexikanischen Autors Carlos Fuentes zu denken: „Erkenne dich selbst in ihm und ihr, in Menschen, die anders sind als wir.“
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Former US President Barack Obama tried to move beyond the fearmongering of the George W. Bush era and unite the country around his own political persona. But as initial optimism gave way to disillusionment, fear once again took hold, setting the stage for the rise of Donald Trump.
reflects on how the politics promoted by America’s first Black president gave rise to its first felonious one.
PARIS – Europa erlebt derzeit einen Moment von historischer Bedeutung. Bis zum Jahresende wird sich die Zahl der Asylbewerber in der Europäischen Union auf über eine Million erhöhen. Trotz des furchtbaren Leids, das mit dieser Flüchtlingskrise verbunden ist, haben die europäischen Regierungen, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmefällen, bislang bestenfalls zaghaft reagiert. Man räumt ein, dass mehr getan werden muss, doch gleichzeitig herrscht Angst vor den Folgen.
Einige Politiker befürchten, dass die Kommunen und Steuerzahler mit der Last überfordert sein könnten. Andere haben Angst vor Extremisten, die als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen. Vor allem aber fürchten viele die öffentliche Meinung. Trotz der herzlichen Begrüßungsszenen und der anhaltenden Unterstützung für Asylbewerber stehen viele noch größeren Zuwandererzahlen aus von Kriegen heimgesuchten, instabilen Ländern weiterhin zögernd oder sogar ablehnend gegenüber. Vor allem wenn die Zuwanderer einer anderen Glaubensrichtung angehören.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs können sich solche Furcht nicht leisten. Sie können vor der Flüchtlingskrise nicht die Augen verschließen. Es wird keine Zauberlösung geben, dank der mehr als eine Million Menschen über die Ägäis und den Bosporus zurück nach Mosul und Aleppo oder über das Mittelmeer zurück nach Eritrea, Somalia oder in den Sudan geschickt werden können.
Durch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen und den Bau von Grenzzäunen gewinnen einige überlastete Staaten zwar etwas Zeit, aber niemand darf ernsthaft erwarten, dass sich Menschen, die so verzweifelt sind, dadurch aufhalten lassen. Angesichts der schrecklichen Bedingungen in ihren Herkunftsländern könnte selbst bei strengsten Vorschriften die Hälfte der Asylbewerber die Kriterien für eine Aufenthaltsbewilligung erfüllen. Ungeachtet der Sensibilität oder Ambivalenz der öffentlichen Meinung müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs daher eine mutige, koordinierte und gemeinsame Lösung finden.
Dabei sind vor allem drei Aufgaben zu erfüllen. Zum ersten muss eine Einigung über die gerechte Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas erzielt werden. Trotz der Vielzahl an verzweifelten Menschen muss sichergestellt werden, dass sie eine Unterkunft, Nahrung und Unterstützung bekommen. Das alleine ist schon schwierig genug.
Die zweite Aufgabe ist, mit der Integration der Flüchtlinge in die europäische Gesellschaft und Wirtschaft zu beginnen. Einige Flüchtlinge werden relativ problemlos Arbeit finden. Ein syrischer Bauingenieur mit Universitätsabschluss muss nach seiner Ankunft in München vielleicht ein wenig Deutsch lernen, aber danach wird er nicht lange warten müssen, bis ihm die ersten Arbeitgeber eine Stelle anbieten. Andere Asylsuchende sind weniger gut ausgebildet und vielfach auch durch ihre Kriegs- und Fluchterlebnisse traumatisiert. Ihre Integration wird Zeit und Mühe erfordern und bei vielen Wählern auf Skepsis treffen, zumal eine erfolgreiche Integration oder Assimilierung mit erheblichen Kosten verbunden ist Diese Investitionen in die Aufnahme und Integration der Asylsuchenden von heute könnten für das Europa von morgen aber auch viele Vorteile bedeuten.
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Die Arbeit der OECD zeigt, dass sich Migration bei entsprechender Organisation durchaus positiv auf Wachstum und Innovation auswirken kann. Bisher ließ der Umgang mit Zuwanderung leider oft organisierte Strukturen vermissen: Migranten wurden unter Ghetto-ähnlichen Zuständen konzentriert untergebracht, sie litten unter mangelnder Grundversorgung und schlechten Beschäftigungsaussichten.
Dennoch belegen die Daten aus den 34 Mitgliedsländern der OECD, dass Migranten im Allgemeinen mehr Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, als sie in Form individueller Leistungen empfangen. Wir haben heute ein Policy Brief zu der aktuellen Flüchtlingskrise herausgegeben. Kurz gesagt braucht Europa die Migranten und ihre neuen Kompetenzen. Andernfalls werden sich die europäischen Staaten angesichts rückläufiger Bevölkerungszahlen schwer tun, in Zukunft für Rentenzahlungen und Gesundheitskosten aufzukommen – bereits von 2000 bis 2010 waren 65 % des Wachstums der Erwerbsbevölkerung in der EU auf Zuwanderung zurückzuführen.
Vielfach wird argumentiert, dass Flüchtlinge, die nicht über die von der Wirtschaft geforderten Kompetenzen verfügen, schwieriger zu integrieren sein werden als andere Neuankömmlinge. Das mag stimmen. Aber dank der Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir heute wesentlich besser, was bei der Neuansiedelung von Migranten funktioniert, und können dadurch hoffentlich frühere Fehler vermeiden – u.a. durch Dokumentation und Verbreitung der Erfahrungen von Ländern, in denen die Herausforderungen der Zuwanderung erfolgreich bewältigt wurden.
Und damit komme ich zur dritten und größten Aufgabe der politisch Verantwortlichen in Europa: dem Umgang mit der Furcht vor Migranten. Integration ist eine Voraussetzung für die öffentliche Akzeptanz der legalen Zuwanderung in der Zukunft. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass „wir“ integriert sind, die „Anderen“ nicht. Dabei hat nahezu jeder Bürger selbst eine Migrationsgeschichte in der Familie, die oft nur wenige Generationen zurückliegt. Der Unterschied zwischen „uns“ und „denen“ ist nicht so groß, wie wir oft annehmen.
Keiner der heutigen Staats- und Regierungschefs hat mit einer menschlichen Tragödie gerechnet, wie wir sie derzeit im Mittelmeerraum und in weiten Teilen Europas erleben. Die Bürger und die Geschichtsbücher werden sie jedoch danach beurteilen, wie sie darauf jetzt reagieren.
Hier geht es nicht um Zahlen. Die politisch Verantwortlichen sollten den Blick von Zuwanderungszahlen und Unterbringungszielen lösen und stattdessen überlegen, mit welchen Maßnahmen sich die Neuankömmlinge in Gesellschaft und Wirtschaft integrieren lassen. Sie müssen ihre Führungsposition nutzen, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Migranten – vor allem die am meisten schutzbedürftigen – mehr geben als nehmen. Wir alle täten gut daran, in dieser Krisenlage an die Worte des mexikanischen Autors Carlos Fuentes zu denken: „Erkenne dich selbst in ihm und ihr, in Menschen, die anders sind als wir.“