Sudan: young Dinka girl Christophe Calais/Getty Images

Maßstäbe der menschlichen Entwicklung

NEW YORK – Die meisten würden sagen, „Entwicklung“ lässt sich am besten anhand der Quantität der Veränderungen messen – etwa Zuwächse beim Durchschnittseinkommen, bei der Lebenserwartung oder bei den Schuljahren. Mein Büro beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNPD) ist für den Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) zuständig, der alle drei Statistiken berücksichtigt und den nationalen Fortschritt einzelner Länder vergleicht.

Was viele Menschen sich nicht klarmachen ist, dass solche Messgrößen zwar nützlich sind, aber längst nicht alles sagen. Um zu verstehen, wie entwickelt ein Land ist, müssen wir auch erfassen, wie sich der Fortschritt auf das Leben der Menschen auswirkt. Und um das zu verstehen, müssen wir die Qualität der Veränderungen berücksichtigen.

Wenn Statistiker Länder vergleichen, benötigen sie vergleichbare Daten. Wenn etwa der Schulbesuch verglichen werden soll, erfassen Wissenschaftler die Zahl der registrierten Schüler in den einzelnen Ländern im Verhältnis zu allen Kindern im Schulalter (was allein schon eine Herausforderung sein kann, weil die Aktenführung in vielen Entwicklungsländern nicht immer standardisiert erfolgt).

Um jedoch die relative Qualität des Bildungssystems eines Landes messen zu können, würden Wissenschaftler ermitteln wollen, ob Schüler tatsächlich lernen. Statistiker müssten Schüler in verschiedenen Fächern testen, um an Zahlen zu kommen ‒ ein deutlich anspruchsvolleres Vorhaben als einfach nur die Anwesenheit zu erfassen.

Statistikern ist natürlich bewusst, dass es viel einfacher ist Quantität als Qualität zu vergleichen. Da wir aber nur auf die Messgrößen zurückgreifen können, die wir haben, bleiben deren Schwächen oftmals unberücksichtigt: Rankings werden anhand von relativen Zuwächsen erstellt oder Politiken werden gestaltet, obwohl „Fortschritt“ gemäß eines vorgegebenen Indikators nicht notwendigerweise echt ist. Wenn die Welt jemals Gleichheit in der menschlichen Entwicklung erreichen soll, müssen wir die Art und Weise verändern, wie wir die Qualität politischer Initiativen messen und berücksichtigen.

Nehmen wir die Statistiken, die im HDI erfasst werden – Lebenserwartung, Bildung und Pro-Kopf-Einkommen. Die Statistiken zum Thema Lebenserwartung legen nahe, dass die Welt gesünder wird, und aus den Daten geht hervor, dass die Menschen älter werden als je zuvor; seit 1990 ist die durchschnittliche Lebenserwartung um rund sechs Jahre gestiegen. Bei der Lebensqualität sind die Verbesserungen weniger ausgeprägt. Die zusätzlichen Lebensjahre gehen oft mit Krankheit und Beeinträchtigung einher – etwa mit Demenz, an der Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge heute rund 47,5 Millionen Menschen weltweit erkrankt sind.

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Während sich die Lebenserwartung anhand von Geburts- und Sterbeurkunden ermitteln lässt, ist für Indizes, die die Lebensqualität messen – wie das globale Gesundheitsmaß DALY (disability-adjusted life years) der WHO – eine Fülle an Informationen über verschiedenste Krankheiten und Beeinträchtigungen in den einzelnen Ländern erforderlich. Die Schwierigkeit derartige Daten zu erfassen bedeutet, dass viele Datensätze zur Lebensqualität leider unvollständig sind oder unregelmäßig erhoben werden.

Im Bereich Bildung ergibt sich ein ähnlich gemischtes Bild. Bei der Ausweitung des Zugangs zu Schulen macht die Welt zweifellos Fortschritte, und mehr Kinder als je zuvor sind eingeschult und besuchen die Schule. Aber wie messen wir die Unterschiede in der Qualität der Bildung? Rund 250 Millionen Kinder weltweit erlernen keine Grundfertigkeiten, obwohl die Hälfte von ihnen mindestens vier Jahre eine Schule besucht hat. Es wird niemanden verwundern, dass Schulen in wohlhabenderen Gegenden in den meisten Ländern in der Regel besser ausgestattet sind, qualifiziertere Lehrer und kleinere Klassen haben. Um Ungleichheit bekämpfen zu können, ist es vielmehr erforderlich Lernerfolge zu messen als Einschulungsraten.

Die PISA-Studien der OECD, die Schulleistungen anhand von Tests untersuchen, die nicht unmittelbar an den Lehrplan gekoppelt sind, sind ein Ansatz Ländervergleiche anzustellen. Die Ergebnisse des Jahres 2015 lassen ein deutlich vielfältigeres Bild der Schulleistungen in den teilnehmenden Ländern entstehen und zugleich krasse Ungleichheiten sichtbar werden. Ein Ergebnis der PISA-Studie war etwa, dass es „sozioökonomisch benachteiligten Schülerinnen und Schülern im OECD-Durchschnitt mit fast dreimal so hoher Wahrscheinlichkeit nicht [gelingt], das Grundkompetenzniveau im Bereich Naturwissenschaften zu erreichen, wie sozioökonomisch begünstigten Schülerinnen und Schülern“.

Ähnlich verhält es sich mit Daten zur Beschäftigung, die von entscheidender Bedeutung für politische Entscheidungsträger sind, die die Weichen für die Zukunft stellen. Aus dem Bericht über die menschliche Entwicklung 2015 geht hervor, dass gering qualifizierte oder geringfügig Beschäftigte stärker von Arbeitslosigkeit bedroht sind, und die Gefahr der Ausbeutung von unbezahlten oder im informellen Sektor tätigen Arbeitskräften wächst, während die Welt im Begriff ist zur wissensbasierten Wirtschaft zu werden.

Um diese Erkenntnisse einordnen zu können, betrachten wir die Beschäftigungsprognosen für die Europäische Union, die von 16 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen zwischen 2010 und 2020 ausgehen: Im gleichen Zeitraum wird erwartet, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze für Personen mit geringen oder keinen formellen Qualifikationen um etwa zwölf Millionen verringert.

„Nicht alles, was gezählt werden kann, zählt. Und nicht alles, was zählt, kann gezählt werden“, hat der Soziologe William Bruce Cameron 1963 geschrieben. Seine Maxime ist auch heute noch zutreffend, obwohl ich im Hinblick auf die Messung der menschlichen Entwicklung eine kleine Abwandlung vorschlagen würde: „Nicht alles, was gezählt wird, zählt für alles“.

Eine gerechte menschliche Entwicklung setzt voraus, dass politische Entscheidungsträger der Qualität der Ergebnisse mehr Aufmerksamkeit widmen, anstatt sich vorrangig auf quantitative Messungen der Veränderungen zu konzentrieren. Nur wenn wir wissen, wie sich Entwicklung auf Menschen auswirkt, können wir Politiken gestalten, die ihr Leben auf besonders wertvolle Weise verbessern. „Es ist kein besonders guter Vorsatz, ein möglichst langes Leben zu haben“ hat der Autor Deepak Chopra einmal bemerkt, „denn Quantität ist nicht gleich Qualität“.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

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