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Die Mär vom chinesischen Whistleblower

NEW HAVEN/HONGKONG – Die öffentliche Meinung in den USA schiebt die Schuld für die COVID-19-Pandemie ganz klar auf China. Schließlich nahm das Virus dort seinen Anfang. Und Präsident Donald Trump und Außenminister Mike Pompeo haben die Flammen weiter angeheizt, indem sie China beschuldigten, den Ausbruch vertuscht und die Verbreitung des neuartigen Coronavirus wissentlich zugelassen zu haben. Doch ihr angeblich schlagender Beweis – das tragische Schicksal des heldenhaften Whistleblowers Li Wenliang – ist gar keiner.

Li, ein Arzt, wurde angeblich wegen seiner Warnung vom 30. Dezember 2019 über ein neues Virus im Krankenhaus Wuhan von chinesischen Behördenvertretern zu Schweigen gebracht und abgestraft. Als sich abgezeichnet habe, dass er etwas Ernstem auf der Spur gewesen sei – derart ernst, dass es ihn letztlich tötete – habe die chinesische Regierung ihre Haltung dann geändert und Lis zum Helden erklärt. Wenn das doch nur früher geschehen wäre, so wird argumentiert, hätte die Welt diese schreckliche Pandemie vermieden.

So war das freilich nicht. Li war ein mutiger junger Mann. Seine Handlungen jedoch waren relativ wenig bemerkenswert. Tatsächlich wird seine Rolle unter Missachtung der Tatsachen verzerrend dargestellt.

Der erste chinesische Arzt, der über ein neues Virus berichtete, war nicht  Li, sondern Zhang Jixian, die 54-jährige Direktorin der Abteilungen für Atemwegserkrankungen und Intensivmedizin im Provinzkrankenhaus für integrierte chinesische und westliche Medizin der Provinz Hubei, das sich ebenfalls in Wuhan befindet. Am 27. Dezember, drei Tage vor Lis Handlungen, diagnostizierte Zhang bei einer dreiköpfigen Familie eine virale Lungenentzündung unbekannten Typs und erstattete sofort Meldung an ihr Krankenhaus, das dann seinerseits am 29. Dezember die Gesundheitskommission von Wuhan kontaktierte.

Anders als im Westen verbreitet erfolgte die Erstreaktion der örtlichen Behörden prompt, wenn auch nicht ohne Fehler. Fakten und Daten sind hier wichtig. Einen Tag später, am 30. Dezember, schickte die Wuhaner Gesundheitskommission eine Warnung über den Ausbruch einer geheimnisvollen neuen Lungenentzündung an alle medizinischen Einrichtungen in ihrem Zuständigkeitsbereich.

Innerhalb von Stunden entsandte die Zentralregierung eine Expertengruppe der Nationalen Gesundheitskommission, um vor Ort Untersuchungen durchzuführen und eine Reaktion auf die potenzielle Epidemie zu organisieren. Das Team kam früh morgens am nächsten Tag, dem 31. Dezember, an, und schon um 13 Uhr desselben Tages gab die Wuhaner Gesundheitskommission eine öffentliche Bekanntmachung über 27 Fälle von Lungenentzündung unbekannter Herkunft heraus. Die Warnung enthielt den Zusatz, dass „bisher keine Fälle einer offensichtlichen Übertragung von Mensch zu Mensch oder einer Infektion von medizinischem Personal bekannt“ seien – ein Fehler, der China heimsuchen sollte.

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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde unter Einhaltung der normalen Meldeverfahren für Infektionskrankheiten gleich am 31. Dezember informiert. Die aktuellen Mitteilungen über Krankheitsausbrüche der WHO (Disease Outbreak News) bestätigen für diesen Tag den Eingang eines Berichts „über Fälle einer Lungenentzündung unbekannter Ätiologie (unbekannter Ursache), die in der Stadt Wuhan festgestellt wurde“. Mit anderen Worten: Die WHO schlug nur zwei Tage, nachdem Zhangs Krankenhaus seine erste Meldung übermittelt hatte, weltweit Alarm.

Li war Augenarzt und nicht darin geschult, komplexe Atemwegserkrankungen zu diagnostizieren. Vermutlich sahen er und einige weitere Ärzte die dringende Mitteilung der Wuhaner Gesundheitskommission vom 30. Dezember. Aus verständlicher Besorgnis verschickten sie am selben Tag kurz vor 18 Uhr Chatnachrichten mit Warnungen über einen potenziellen Krankheitsausbruch an Freunde.

Die Nachricht verbreitete sich viral. Jetzt kam die örtliche Polizei ins Spiel, die Lis Warnung im Rahmen der berüchtigten Internetüberwachung Chinas zu ihm zurückverfolgt hatte. Li erhielt am 1. Januar eine polizeiliche Verwarnung, weil er ein Gerücht in die Welt gesetzt habe, und unterzeichnete am 3. Januar ein „Verwarnungsschreiben“. Aber dies ist weniger verstörend, als es den Anschein haben könnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte niemand – auch nicht Zhang und Li – irgendwelche Erkenntnisse über den wahren Charakter der Krankheit. Dies gilt auch für die Polizei von Wuhan, die verständlicherweise besorgt war über scheinbar Panik verbreitende Nachrichten. Aber Li wurde nicht wegen Verbreitung von Gerüchten verhaftet oder anderweitig bestraft. Unglücklicherweise starb Li am 6. Februar – demselben Tag, an dem Zhang offiziell als die wahre Whistleblowerin geehrt wurde – an dem Coronavirus.

Wo also ist hier ein Beweis für Fehlverhalten? Nachdem sie eine erkrankte Familie auf bekannte Viren getestet hatte, wusste Zhang lediglich, dass diese Erkrankung sich hiervon unterschied, und schlug Alarm. Dies reichte aus, um eine schnelle Reaktion der Behörden auf lokaler und nationaler Ebene auszulösen.

Der große Fehler in dieser frühen Phase – das Versäumnis, die Möglichkeit einer Übertragung von Mensch zu Mensch in Betracht zu ziehen – war ein Beurteilungsfehler, der vermutlich zu geringe gemeldete Fallzahlen widerspiegelt. Leider versäumten es die USA, die noch immer unter eklatanten Testmängeln und einer damit verbundenen Untererfassung der Infektionszahlen leiden, diese Lehre zu beherzigen.

An dieser Stelle fällt die Verschwörungstheorie der Trump-Regierung in sich zusammen. COVID-19 ist ein neuartiges Coronavirus – es ist noch nie zuvor aufgetreten. Die örtlichen chinesischen Behördenvertreter waren angesichts der ersten Anzeichen dieses Krankheitsausbruchs genauso verwirrt wie alle anderen. Und das waren sie eine ganze Weile. Warum sonst hätten sie Straßenfeste und Urlaubsreisen aus Wuhan vor dem chinesischen Neujahrsfest zulassen sollen? Als Chinas nationale Gesundheitsbehörden erkannten, wie ansteckend das Virus ist, wurde über Wuhan eine Ausgangssperre verhängt und die Stadt wurde abgeriegelt. Das geschah am 23. Januar 2020. Auch ließ China – entgegen der Vertuschungslegende der Trump-Regierung – die US-Regierungsvertreter nicht im Dunkeln. Der Direktor der chinesischen Seuchenschutzbehörde informierte seinen US-Amtskollegen am 3. Januar – innerhalb einer Woche nach Zhangs erster Meldung.

Während der ursprüngliche Kontakt zwischen den beiden Seuchenschutzbehörden durch das Neujahrsfest unterbrochen wurde, war die Abstimmung zwischen den Gesundheitsbehörden beider Länder viel enger – und die Zeitverzögerungen waren, wie die Dokumentation der WHO zum Krankheitsausbruch belegt, wesentlich kürzer – als im Westen gemeinhin angenommen.

Der Kontrast zur Reaktion der USA ist frappierend. Während von Zhangs ursprünglicher Meldung bis zur Ausgangssperre in Wuhan am 23. Januar 27 Tage vergingen, ließen sich die USA von der ersten offiziellen Diagnose von COVID-19 (20. Januar) bis zu Trumps Ausrufung des nationalen Notstands (13. März) genau doppelt so lange Zeit (54 Tage).

Lis Tod spielt eine zentrale Rolle in den Verschwörungstheorien, die den chinafeindlichen Diskurs von Trumps republikanischer Partei antreiben. Das „Corona Big Book“, ein durchgestochenes 57-seitiges Strategiepapier für den Wahlkampf der Partei 2020, ist voll von verzerrenden Darstellungen der angeblichen Einschüchterung Lis. Zhang wird darin überhaupt nicht erwähnt.

Genauso wichtig für die Strategie der Republikaner ist der Vorwurf, dass COVID-19 aus einem Labor des virologischen Instituts in Wuhan stamme. Obwohl diese Anschuldigungen von US-amerikanischen und anderen westlichen nachrichtendienstlichen Quellen, führenden Wissenschaftlern und Amerikas führendem Experten für Infektionskrankheiten, Anthony Fauci, zurückgewesen wurden, hören die Lügen der Republikaner nicht auf.

Ob Labor in Wuhan oder angeblicher Märtyrertod Lis, die Folgerungen sind dieselben: Je mehr die USA mit den Verheerungen von COVID-19 zu kämpfen haben, desto verzweifelter versuchen Trump und seine Loyalisten, China die Schuld zuzuschieben. In einer von Verschwörungstheorien gespickten politischen Strategie spielen Fakten kaum eine Rolle.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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