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Die transatlantische Bedeutung der Türkei

WASHINGTON, DC – Die Türkei, die Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Woche besucht, unterscheidet sich stark von jener Türkei, die vor fünf Jahren in Beitrittsgespräche mit der Europäischen Union eintrat. Denn nachdem diese Gespräche anscheinend ins Leere gehen, hat die Türkei begonnen, ihren internationalen Horizont zu erweitern. Tatsächlich ist die türkische Außenpolitik heute um einiges proaktiver und multidimensionaler als zu irgendeiner Zeit seit Kemal Atatürk die moderne Türkei aus den Trümmern des Osmanischen Reichs errichtete.

Die Türkei ist heute im Nahen Osten und weit darüber hinaus ein bedeutender eigenständiger Akteur. Das hat sowohl in den USA als auch in Europa einige Aufregung hervorgerufen und eine wachsende Sorge begründet, der Westen würde die Türkei irgendwie „verlieren“.

Doch die „Besonderheit“ der Türkei im Nahen Osten ist nicht unbedingt ein Nachteil für den Westen. Im Gegenteil: Die Türkei könnte für ihre europäischen und amerikanischen Partner ein wichtiger Trumpf sein.  

Das heißt allerdings nicht, dass der potenzielle Einfluss der Türkei im Nahen Osten automatisch ein Vorteil für den Westen ist. Die günstige Entwicklung der Türkei in der Region hängt davon ab, wie konsequent sie die Demokratisierung im eigenen Land und eine regelbasierte Außenpolitik verfolgt. Überdies kann der Nutzen des türkischen Einflusses in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nur realisiert werden, wenn die EU den Beitrittsprozess ehrlicher und konsequenter gestaltet und die USA beginnen, die Türkei als unverzichtbaren Partner zu behandeln.

Mit Verspätung engagiert sich die Türkei im Nahen Osten durch Vermittlung in Konfliktfällen, die Entwicklung von Wirtschaftsbeziehungen und die Liberalisierung des Personenverkehrs. Diese Initiativen zielen allesamt auf die Förderung des regionalen Friedens, des Wohlstandes und der Öffnung ab. Genau das tat die Türkei seit den 1990er Jahren bereits in ihren Beziehungen mit der ehemals sowjetischen Welt, ohne jedoch damit vom Westen große Aufmerksamkeit zu erhalten.

Durch den Beitrag der Türkei zur Integration des Nahen Ostens in das globale System, kommt es zu einer, wenn auch bescheidenen Vorbildwirkung der türkischen Demokratie und Marktwirtschaft auf ihre südlichen Nachbarn. Um das Potenzial der Türkei für einen Beitrag zu Frieden und Stabilität im Nahen Osten zu nutzen, ist die Entwicklung von Kooperationskanälen mit der Türkei sowohl für die USA als auch die EU unerlässlich.

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Allerdings ist die türkische Demokratie selbst noch nicht gefestigt. Das ist allerdings eine Voraussetzung dafür, die türkische Außenpolitik zum Nutzen der EU und der USA einzusetzen. Von der EU geförderte Reformen haben die politische Landschaft in der Türkei dramatisch verändert, aber der Wandel in Richtung einer liberalen Demokratie ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, wie die aktuellen Episoden politischer Instabilität und die nicht seltenen populistischen Ausbrüche des Premierministers zeigen.

Innenpolitische Defizite und eine politische Polarisierung schüren die Versuchung, sich von einer auf universellen Werten beruhenden Außenpolitik abzuwenden. In diesem Punkt bleibt das fortgesetzte Engagement der transatlantischen Partner der Türkei von entscheidender Bedeutung. Aus einer im Juli 2009 in sieben arabischen Ländern durchgeführten Umfrage geht hervor, dass 64 % der Befragten der Meinung sind, die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei mache aus dem Land einen attraktiven Reformpartner in der arabischen Welt. Das unterstreicht den direkten Zusammenhang zwischen dem außenpolitischen Potenzial der Türkei und ihrem Kurs in Richtung eines EU-Beitritts.

Der Ansatz der Obama-Administration gegenüber der Türkei ist durchaus konstruktiv. Es gibt auch eine wirkungsvolle praktische Kooperation hinsichtlich der Zukunft des Irak und Afghanistans sowie der arabisch-israelischen Beziehungen und des Libanon. Sogar bezüglich des Iran betreffen die bestehenden Differenzen eher die Mittel als den Zweck. Die verbesserte Position der Türkei im Nahen Osten kann auch den USA im Hinblick auf die Stärkung der Demokratie in der Region helfen. Die USA müssen in diesem Bereich eine Partnerschaft mit der türkischen Zivilgesellschaft in Erwägung  ziehen, um die Demokratie sowohl in der Türkei als auch in ihrer Nachbarschaft zu stärken.

Von noch größerer Bedeutung ist die Rolle der EU. Nach Eintritt in den Beitrittsprozess scheint die EU die Türkei fallengelassen zu haben und damit ihren jahrzehntealten – von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer getroffenen – Zusagen, in gutem Glauben mit der Türkei über einen EU-Beitritt zu verhandeln, nicht nachzukommen.

Um die immer noch notwendigen Reformen des politischen Systems durchzuführen, braucht das  politische System der Türkei ein Gefühl des Vertrauens, das durch einen Dialog mit der EU und der realen Aussicht auf einen Beitritt entsteht. Eine Wiederbelebung der Beitrittsgespräche ist die einzige Möglichkeit, das Vertrauen zwischen Regierung, Liberalen und dem säkularen Establishment wiederherzustellen und damit den Reformprozess im Lande neu zu beleben.

Eine Wiederaufnahme des Beitrittsprozesses und die Wiederherstellung seiner Glaubwürdigkeit würde es der Türkei weiterhin ermöglichen, als wirtschaftliche, kulturelle, politische und soziale Drehscheibe in ihrer Nachbarschaft zu agieren. Dies wäre für die Nachbarschaft, die EU und für die Türkei selbst von großem Nutzen.

Die neue regionale Bedeutung der Türkei verwandelt eine statische Barriere aus dem Kalten Krieg in einen potenziellen Katalysator für regionalen Frieden, Wohlstand und Stabilität. Dieser Wandel ist allerdings nicht selbstverständlich und bedarf der Unterstützung der EU und der USA. Der Westen hat die Türkei nie besessen, daher ist die Debatte darüber, wer sie „verloren“ hat, fruchtlos. Stattdessen bedarf es einer ernsthaften Diskussion über die Bedingungen, die es der Türkei ermöglichen, ihrem transatlantischen Versprechen nachzukommen.

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