pompeo and mohammed bin salman LEAH MILLIS/AFP/Getty Images

Ist mit Khashoggi auch die Weltordnung gestorben?

WASHINGTON, DC – Anfang Oktober betrat Jamal Khashoggi –  Kolumnist der Washington Post und prominenter Kritiker der saudischen Regierung – das saudi-arabische Konsulat in Istanbul, um die für die Heirat mit seiner türkischen Verlobten notwendigen Papiere abzuholen. Doch anstatt von der Regierung seines Landes Hilfe zu erhalten, wurde er von ihren Agenten  gefoltert, ermordet und zerstückelt.

Dabei handelt es sich um ein schockierendes Verbrechen, das einige ernste Fragen aufwirft, nicht zuletzt im Hinblick auf die angemessene Balance zwischen dem Schutz der Menschenrechte und der Erhaltung lange währender (und lukrativer) Allianzen. Auf einer grundsätzlicheren Ebene  hat die schiere Unverfrorenheit mit der die saudische Regierung Khashoggi tötete – von der schwachen Reaktion westlicher Spitzenpolitiker ganz zu schweigen – den Menschen auf der ganzen Welt vor Augen geführt, wie eiskalt bei geopolitischen Machenschaften wirklich kalkuliert wird.

Transparenz ist üblicherweise ein Wert, den es zu fördern gilt. In diesem Fall allerdings haben die Enthüllungen ihren Preis. Die Überzeugung, dass Prinzipien, Werte und Regeln in internationalen Beziehungen zumindest von einer gewissen Bedeutung sind, übt stabilisierende Wirkung aus. Wird diese Überzeugung erschüttert - wie etwa durch die Vergiftung des früheren russischen Doppelagenten Sergei Skripal und seiner Tochter heuer im Frühjahr auf britischem Boden – beschädigt das auch die Weltordnung in womöglich irreparabler Weise.

Die delegitimierende Wirkung derartiger Vorkommnisse wird durch einen, vom Aufstieg der sozialen Medien geschürten, umfassenderen Verzicht auf Förmlichkeit – wie etwa Kleidervorschriften und Kommunikationsstandards am Arbeitsplatz - verschärft. Da die Konturen unseres öffentlichen und privaten Lebens verschwimmen, geraten Personen des öffentlichen Lebens unter Druck, wie unsere Nachbarn und Kollegen als „real“ und „normal“ zu erscheinen. Sogar Papst Franziskus hat ein Rock-Album veröffentlicht.

Freilich sind nicht alle dieser Veränderungen unbedingt schlecht. Der Zusammenbruch formaler Strukturen kann Raum für unabhängiges Denken und Innovation schaffen. Gefährlich wird es, wenn kein neues Rahmenwerk als Anleitung für unser Verhalten - und, noch wichtiger, für das unserer Führungspersönlichkeiten – entsteht,  um sicherzustellen, das es sich an einigen gemeinsamen Werten oder vernünftigen Erwartungen orientiert.  

US-Präsident Donald Trump verkörpert diese Gefahr. Seit er die politische Bühne betrat, hat Trump den Erwartungen hinsichtlich dessen, wie sich ein US-Präsidentschaftskandidat – und später ein US-Präsident – zu verhalten habe, nicht entsprochen. Obwohl grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden ist, dass Spitzenpolitiker offen und direkt mit ihrer Wählerschaft kommunizieren, sind Trumps - größtenteils über Twitter - getätigte Äußerungen in Ton und Stil höchst beschädigend. Seine Beleidigungen unter der Gürtellinie, seine rassistische „Hundepfeifen-Politik” und die unbegründeten Angriffe auf Medien und andere demokratische Institutionen vertiefen die politischen und sozialen Trennlinien und schmälern den Respekt vor der Präsidentschaft und den USA im Allgemeineren.  

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Ähnlich destabilisierend wirkt auch Trumps beispiellos transaktionaler – und höchst unberechenbarer – Ansatz im Bereich Außenpolitik. Freilich waren Trumps Deals ursprünglich bis zu einem gewissen Grad von allgemeineren Werten getragen, insbesondere von der Absicht, die „Fairness” in den Beziehungen der USA zu verbessern, wie etwa hinsichtlich der Sicherheitskooperation mit den NATO-Verbündeten oder der Handelsbeziehungen mit China. Trotz Trumps Rhetorik des „Amerika zuerst” schienen diese Aktionen eher darauf ausgerichtet zu sein, das System neu auszutarieren als es zu zerstören.

Trumps Reaktion auf die Vorgänge rund um Khashoggi präsentiert sich jedoch vollkommen losgelöst von irgendwelchen übergreifenden Werten. Fest steht, dass US-Präsidenten gemeinsam mit europäischen Spitzenpolitikern Saudi-Arabien jahrzehntelang hätschelten und internationale politische Führungspersönlichkeiten ihre außenpolitischen Entscheidungen oftmals eher auf Realpolitik als auf moralische Überlegungen stützten.  

Doch nun erleben wir zum ersten Mal, dass ein US-Präsident ungeniert die rein transaktionale Natur politischer Entscheidungen anerkennt. Die Saudis, so erklärte Trump unumwunden, „geben 110 Milliarden Dollar für militärisches Gerät und andere Dinge aus, die in den Vereinigten Staaten für Arbeitsplätze sorgen. Mir gefällt die Vorstellung nicht, Investitionen von 110 Milliarden Dollar in den USA ein Ende zu setzen.“ 

Ungeachtet der Zweifelhaftigkeit der genannten Zahlen sind Trumps Kommentare unverhohlene Zeugnisse monetarisierter Interessen.  Die Nonchalance, ja fast schon Überheblichkeit, mit der er derartige Äußerungen tätigt, ist ein Hinweis darauf, dass wir in ein neues Zeitalter eingetreten sind, in dem wir von unseren Spitzenpolitikern nicht mehr erwarten dürfen, wenigstens den Versuch zu unternehmen, ihre Entscheidungen in ein regel- oder wertebasiertes Narrativ einzufügen.

Das ist gefährlich, weil derartige Narrative von entscheidender Bedeutung sind, um die Glaubwürdigkeit der internationalen Ordnung und die Unterstützung der jeweiligen Wählerschaften für diese Ordnung aufrechtzuerhalten. Ebenso wie effektive Führerschaft und Respekt vor der Rechtsstaatlichkeit ist ein gewisses Maß an Vertrauen in das System  - auch wenn es durch Frustration über Ungleichheit oder Straflosigkeit eingeschränkt ist -  unerlässlich für dessen Überleben.

In einer Welt, in der nur noch der Deal zählt, wo kein Ethos unsere Handlungen leitet und unseren Systemen der Regierungsführung zugrunde liegt, wissen die Bürger nicht, was sie von ihren politischen Führungen erwarten können und Länder wissen nicht, was sie von ihren Verbündeten erwarten können. Eine derart unberechenbare und instabile Welt sollten wir nicht blind akzeptieren.

Es ist noch nicht zu spät, um auf Khashoggis brutale Ermordung in einer Weise zu reagieren, die die Regeln, auf die wir alle angewiesen sind, stärkt und nicht untergräbt. Kanzlerin Angela Merkels Aussetzung der Waffenverkäufe an Saudi-Arabien ist ein guter Anfang, auch wenn die Entscheidung größtenteils auf Grundlage ihres Wunsches gefällt wurde, damit Unterstützung für ihre Christlich Demokratische Union im Vorfeld der Landtagswahlen in Hessen zu gewinnen; ebenso verhält es sich auch mit dem aktuellen Widerstand aus Washington gegen den Ansatz, gegenüber Saudi-Arabien zur Tagesordnung überzugehen. 

Aber es muss mehr getan werden und Spitzenpolitiker mit Prinzipien sollten klar und deutlich erklären, dass die Vorkommnisse von Istanbul nicht akzeptabel sind. Anderenfalls geben wir den Diskurs über Werte und Regeln praktisch auf – und diese Entscheidung könnte dazu führen, dass überhaupt kein einheitlicher und stabilisierender Diskurs mehr stattfindet.  

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/68w1Et9de