Naher Osten: Hoffnung inmitten des Chaos

LONDON – Syrien durchlebt einen Alptraum. Ägypten steht am Rande des Abgrunds. Doch wie die Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen Israel und der Palästinenserbehörde zeigt, gibt es Anzeichen der Hoffnung. Und auch wenn es der Intuition widerspricht: Die Turbulenzen der Region bringen deren grundlegende Probleme endlich in einer Weise an den Tag, die es möglich macht, sie in Angriff zu nehmen und zu überwinden. Dies ist keine Zeit für Verzweiflung, sondern für aktives Engagement.

Niemand hielt die Wahrscheinlichkeit einer Wiederbelebung des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses für mehr als minimal. Doch jetzt ist sie da. Und dies sind keine Gespräche über Gespräche; es ist eine echte Neuaufnahme der Verhandlungen über den Endstatus, bei der beide Seiten sich verpflichtet haben, den Prozess mindestens neun Monate lang aufrecht zu erhalten.

Für jene von uns, die in dieser Frage in der Vergangenheit – oft erfolglos – Kärrnerarbeit geleistet haben, ist dies ein enormer Erfolg, herbeigeführt durch die hartnäckige Entschlossenheit des amerikanischen Außenministers John Kerry und die Bereitschaft des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und des Präsidenten der Palästinenserbehörde, Mahmoud Abbas, zu Hause politische Risiken bei der öffentlichen Meinung einzugehen.

Deutlich weniger Beachtung erhielt der Besuch des jemenitischen Präsidenten Abd Rabbuh Mansur Hadi in Washington. Völlig unerwartet durchläuft der Jemen derzeit einen Prozess des politischen Wandels, bei dem 500 Delegierte aus allen Bereichen der Gesellschaft an Plänen für Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung arbeiten.

Im Irak sind die Opferzahlen nach Jahren zurückgehender religiös motivierter Gewalt wieder im Steigen begriffen, was zum Teil durch den Krieg im benachbarten Syrien bedingt ist. Doch selbst im Irak hat Großayatollah Ali al-Sistani, der einflussreichste schiitische Geistliche des Landes, vor kurzem in einer Stellungnahme die Notwendigkeit eines zivilen, nicht religiösen Staates verkündet, der allen gleichermaßen die Freiheit bietet, sich einzubringen. Sistani brachte zudem seinen Dissens mit jenen dem Iran nahe stehenden Kräften zum Ausdruck, die wollen, dass die Schiiten sich gemeinsam mit der Hisbollah in Syrien an der Verteidigung des Regimes von Bashar al-Assad beteiligen.

In ähnlicher Weise hat zu Beginn des Ramadan König Abdullah von Saudi-Arabien, der zugleich Schutzherr der beiden heiligen Moscheen ist, eine eindringliche Erklärung abgegeben, die der Vereinnahmung des islamischen Glaubens durch jene, die ihn im Namen der Politik zu pervertieren suchen, entgegentrat.

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Libyen und Tunesien sind alles andere als befriedet, wie die jüngste Ermordung des führenden tunesischen Oppositionspolitikers und die uneingeschränkte Präsenz der Milizen in den libyschen Städten zeigt. Aber die Demokraten geben nicht auf.

Überall im nördlichen Schwarzafrika gehen enorme Herausforderungen von schwer bewaffneten und gut finanzierten Terrorgruppen aus, die die vergiftete islamistische Ideologie aus dem Nahen Osten importiert haben. Länder wie Nigeria leiden schrecklich unter dem Terrorismus, der auf einer ihren Gesellschaften fremden Form des religiösen Extremismus gründet. Doch trotz allem erlebt Nigeria ein starkes wirtschaftliches Wachstum und hat gerade eine wichtige – und noch vor kurzem für unmöglich erachtete – Reform des Energiesektors umgesetzt.

Ägypten wiederum könnte mit einer Verfassung, die tatsächlich alle gesellschaftlichen Gruppen einbindet und objektiv umgesetzt wird, den Umschwung in Richtung Demokratie schaffen. Es wurden Wahlen für Anfang 2014 versprochen, und alle Parteien – auch die Muslimbruderschaft – könnten daran teilnehmen. Freilich ist es auch möglich, dass Ägypten paralysiert wird und es nicht schafft, seine düstere Wirtschaftslage zu verbessern und wieder Ordnung herzustellen, ohne die kein Fortschritt möglich ist.

Doch zeigen Ägypten interne Spannungen ein tiefer gehendes Erwachen in der Region, das seine eigene Bedeutung hat. Lehren über den Staat, die Regierungsführung und die Demokratie, die zu lernen der Westen Jahrhunderte brauchte, werden mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit absorbiert.

Es ist inzwischen klar, dass der Status quo innerhalb der Region keinen Bestand haben wird. Die Vorstellung von der Regierung eines „starken Mannes“ – eines Regimes, das Ordnung hält und mit dem die übrige Welt gerne Umgang pflegt, weil es verlässlich ist – ist dahin. Es ist egal, ob der „starke Mann“ ein Psychopath wie Saddam Hussein ist oder gemäßigt wie Hosni Mubarak, der den Frieden in der Region wahrte: Dies ist das 21. Jahrhundert, wo ganz normale Menschen die Politik ihres Landes mitbestimmen wollen. Die Entscheidung fällt dabei zwischen Evolution und Revolution.

Eine Evolution, sofern erreichbar, ist dabei eindeutig vorzuziehen. Um es offen zu sagen: Syrien hätte davon profitiert. Die Menschen haben erlebt, wie per Feuersturm praktizierte Politik abläuft. Überall in der Region haben sie genug von der damit verbundenen Rohheit und Unordnung. Sie erkennen zunehmen, dass Wandel am besten mit Stabilität einhergeht, und dass Demokratie nur funktioniert, wenn der Diskurs in einer Atmosphäre stattfindet, in der die Argumente plakativ und sogar unfreundlich sein können, aber nicht zur Gewalt anstacheln.

Es wird zudem langsam akzeptiert, dass Religionsfreiheit ein notwendiger Bestandteil freier und offener Gesellschaften ist. Die Diskussion über die Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft ist nun eröffnet. Dies ist eine enorm wichtige und gesunde Entwicklung. Erstmals gibt es eine lebhafte, intelligente Debatte über diese Frage, die im Kern der Probleme des Nahen Ostens steht.

Offene Gesellschaften vertragen sich nicht mit geschlossenen Volkswirtschaften. Ein funktionierender privater Sektor, der ordentliche Arbeitsplätze schafft, und Schulen, die die großen jungen Bevölkerungen auf die heutige interdependente Welt vorbereiten, sind die Voraussetzungen für den Fortschritt.

Das Problem zwischen Israelis und Palästinensern ist aus bekannten Gründen von entscheidender Bedeutung. Aber es ist zugleich ein Test für die Fähigkeit der Region, eine andere, bessere Zukunft zu schmieden. Wenn diese beiden Völker eine gemeinsame Basis finden können, um nach Jahren der Bitterkeit und des Blutvergießens zwei demokratische und freie Staaten zu schaffen, gäbe dies der Region ein enorm einflussreiches Modell der Hoffnung.

Allerdings wäre die Aufnahme der Friedensgespräche in Washington nie erfolgt ohne das umfassende Engagement der USA und anderer internationaler Partner. Dies ist eine Lehre, an die wir uns erinnern müssen, während Syrien vor unseren Augen zerfällt. Egal, wie gern wir wegsehen würden: Lässt man dem Blutbad in Syrien seinen Lauf, könnte das für die Region und für die Sicherheit des Westens katastrophale Folgen haben.

Mit Sicherheit lassen sich gemeinsame rote Fäden erkennen, die sich durch die Terroranschläge des 11. September 2001, Afghanistan, Irak, die arabischen Revolutionen, Iran, Syrien, Ägypten und die vom religiösen Extremismus ausgehende Verbreitung des Terrors hindurchziehen. Einer davon betrifft die Art und Weise, wie Staaten aus Jahren der Unterdrückung hervorgehen, um Institutionen zu errichten, die den Anforderungen der modernen Welt gewachsen sind. Ein anderer – eindeutig damit verknüpft – sind die Bemühungen der Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, die Beziehung zwischen Religion und Politik zu definieren. Die ganze Welt hat ein massives Interesse daran, wohin diese Fäden führen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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