musiitwa2Carlos GilSOPA ImagesLightRocket via Getty Images_refugee mobile phone Carlos Gil/SOPA Images/LightRocket via Getty Images

Die Banken sollten auf die Flüchtlinge setzen

KAMPALA – Jede Minute werden durchschnittlich Menschen vertrieben. Sie werden gezwungen, ihre Arbeit, ihr Zuhause und selbst ihre Familien zu verlassen und kommen, nach strapaziösen Reisen, oft ohne Geld oder Papiere und mit wenigen Besitztümern in neuen Ländern an. Doch erwartet sie dort keine sicherere, wohlhabendere Zukunft; vielmehr werden sie häufig marginalisiert, ausgeschlossen und sogar verteufelt, und es wird ihnen die Möglichkeit vorenthalten, sich in ihre Gastgesellschaften zu integrieren oder zur lokalen Wirtschaft beizutragen. Eine simple Methode zur Stärkung der Flüchtlinge bestünde darin, ihnen Zugriff zu Finanzdienstleistungen zu gewähren.

Die Finanzdienstleister haben diese Bevölkerungsgruppe aufgrund von Erreichbarkeits- und Identifizierungsproblemen, aber auch wegen der Wahrnehmung der Flüchtlinge als Hochrisikogruppe lange vernachlässigt. Doch die technischen Fortschritte während des letzten Jahrzehnts haben die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen an Flüchtlinge einfacher, sicherer und kosteneffektiver gemacht als zu irgendeinem Zeitpunkt in der Vergangenheit.

Dank digitaler und mobiler Technologien spielt sich das Bankgeschäft nicht mehr primär in Bankfilialen statt, sondern auf den Telefonen der Menschen, egal wo sie sich gerade aufhalten. Dies hat die Einführung „digitaler Brieftaschen“ erleichtert, mit denen Nutzer Geld allein per Handy zu erhalten, aufzubewahren und auszugeben können. In den letzten Jahren hat das mobile Geld insbesondere in Schwarzafrika enorme Beliebtheit erlangt, und es kann die Spielregeln für den enormen Anteil der Weltbevölkerung ohne Bankverbindung – 1,7 Milliarden Menschen, von denen zwei Drittel bereits ein Mobiltelefon besitzen, das als Tor zu Finanzdienstleistungen dienen könnte – völlig auf den Kopf stellen.

Es gibt wenig Grund, Flüchtlinge anders zu betrachten als den übrigen Teil der Weltbevölkerung ohne Bankkonto. Anders als gemeinhin angenommen geht von Flüchtlingen als Gruppe kein erhöhtes Risiko aus: Der Kiva Refugee Impact Report hat festgestellt, dass Flüchtlinge ihre Kredite im gleichen Umfang tilgen wie Nichtflüchtlinge. Auch können die Banken dank Gesichtserkennung und künstlicher Intelligenz die Identität der Nutzer heute innerhalb von Sekunden ermitteln, indem sie etwa über eine Open-Source-Programmierschnittstelle (API) einen schnellen Iris-Scan durchführen.

Infolgedessen werden das Fehlen von Ausweispapieren, Kreditsicherheiten und/oder einer festen Anschrift bei Flüchtlingen zunehmend irrelevant. Dies gilt umso mehr durch die Einführung von ID2020, einem Gemeinschaftsprojekt von Microsoft, Accenture und den Vereinten Nationen, das biometrische Daten und Blockchain (Distributed Ledgers) nutzt, um ein verschlüsseltes, dauerhaftes und weitergebbares Ausweisinstrument für alle Flüchtlinge zu schaffen.

Die Nutzung von Blockchain liegt auch im Interesse der Finanzdienstleister selbst. Natürlich hat die Technologie, die direkte Transaktionen zwischen Geschäftsparteien unter Schaffung eines dauerhaften, unveränderlichen Nachweises erleichtert, das Potenzial, die Finanzdienstleister langfristig zu verdrängen, indem sie deren Monopol als vertrauenswürdige Mittler beendet. Doch könnte ihre Übernahme durch die Banken kurzfristig die Kosten und das Betrugsrisiko senken und so die schnelle Ausweitung von Leistungen u. a. auf Flüchtlinge ermöglichen. In diesem Sinne könnte Blockchain den Kreditzugang für Flüchtlinge revolutionieren.

PS Events: Climate Week NYC 2024
image (24)

PS Events: Climate Week NYC 2024

Project Syndicate is returning to Climate Week NYC with an even more expansive program. Join us live on September 22 as we welcome speakers from around the world at our studio in Manhattan to address critical dimensions of the climate debate.

Register Now

Blockchain wird auch heute schon verwendet, um Flüchtlingen zu helfen. So verteilt etwa in Jordanien das Flüchtlingslager Zaatari humanitäre Hilfe mittels Blockchain und Kryptogeld. Jeder Flüchtling erhält dort eine digitale Brieftasche, in die das Geld für Lebensmittel und sonstige Bedarfsgüter eingezahlt wird, wobei zur Transaktionsverifizierung Gesichtserkennung eingesetzt wird. Die Ergebnisse sind überzeugend: eine faire und präzise Hilfsverteilung, eine 98%ige Verringerung der Transaktionsgebühren und weniger Fälle von Veruntreuung.

In Finnland haben das Blockchain-Startup MONI und die finnische Einwanderungsbehörde Flüchtlingen einen per Blockchain gespeicherten digitalen Ausweis ausgestellt. Mit einem MONI-Konto können Flüchtlinge auf staatliche Leistungen zugreifen, selbst wenn sie ihre Pässe verloren haben. Ein derartiger Einsatz von Blockchain verringert die Abhängigkeit von staatlich ausgestellten Ausweisen, da er die Anerkennung anderer Ausweisformen, wie etwa eines UN-Flüchtlingsausweises, unterstützt.

Es gibt einen weiteren, langfristigen Grund, warum Finanzdienstleister ihr Leistungsangebot auf Flüchtlinge ausweiten sollten. Dies würde es ihnen ermöglichen, Daten zu erfassen und wertvolle Lehren zu sammeln, die ihnen helfen können, ihre Strategie in Bezug auf ihre zunehmend mobilen globalen Kunden zu gestalten, die aus Vollzeitarbeitsplätzen in Tele- und freiberufliche Arbeit innerhalb der „Gig Economy“ umsteigen.

Die Kreditwürdigkeit von Freiberuflern – die bis 2020 43% der Erwerbsbevölkerung ausmachen dürften – ist u. a. aufgrund ihrer unregelmäßigen und unvorhersehbaren Einkünfte schwer zu ermitteln. Und sogenannte digitale Nomaden haben häufig keine feste Anschrift, was die Durchführung von Bonitätsprüfungen schwierig macht. Diese Arbeitnehmer der Zukunft stellen daher traditionelle Finanzdienstleister vor viele derselben Herausforderungen wie Flüchtlinge das tun. Heute für Flüchtlinge erstellte alternative Methoden zur Bonitätseinstufung könnten in Zukunft sehr viel breitere Anwendung finden.

Aus all diesen Gründen sollten die Banken jetzt tätig werden, um ihre Leistungen für Flüchtlinge auszuweiten. Sie könnten dabei dem Beispiel des Fintech-Unternehmens MyBucks folgen, das im Flüchtlingslager Dzaleka in Malawi eine Bankfiliale eröffnet hat, die Kredite, mobiles Banking und Schulungsleistungen anbietet.

Natürlich sind auch in anderen Bereichen Veränderungen erforderlich, um die Flüchtlingskrise zu lösen und das wirtschaftliche Potenzial der mehr als 25 Millionen Flüchtlinge weltweit anzuzapfen. Das fängt an bei den politischen Narrativen der Zielländer. In vielen Ländern stellen Politik und Medien Flüchtlinge als Bedrohung für die Sicherheit, den kulturellen Zusammenhalt und die öffentlichen Ressourcen dar.

Die frühere US-Außenministerin Hillary Clinton machte ihre Niederlage gegen Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl 2016 und das dieser vorangehende Brexit-Votum an der öffentlichen Gegenreaktion gegen die Einwanderung fest und hat vor kurzem vorgeschlagen, dass Europa weniger Flüchtlinge aufnehmen sollte, um dem Aufstieg des Populismus Einhalt zu gebieten. Der Afrika-Beauftragte der deutschen Bundesregierung Günter Nooke hat einen sogar noch unappetitlicheren Vorschlag gemacht: Die afrikanischen Länder sollten Gebiete abgeben, die von der Europäischen Union dann als Sonderwirtschaftszonen verwaltet werden würden, was auf einen „freiwilligen Kolonialismus“ hinauslaufen würde.

Derartige Lösungen sind nicht nur unethisch; sie würden auch die Krise nicht beenden. Auch humanitäre Hilfe allein wird nicht funktionieren, außer als Überbrückungsmaßnahme. Um langfristige Stabilität und Dynamik zu gewährleisten, müssen die Gastgeberländer den Flüchtlingen wirtschaftliche Chancen eröffnen. Die für ihre disruptiven Fähigkeiten bekannten Finanzdienstleister und Fintech-Unternehmen können bei diesem Prozess eine Schlüsselrolle spielen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/NaCgLBxde