varoufakis54_ANGELOSTZORTZINISAFPGettyImages_manwalkingstockexchange Angelos Tzortzinis/AFP/Getty Images

Ein griechischer Kanarienvogel in einer globalen Goldmine

ATHEN – Das Land der Eurozone, das zum Synonym für Insolvenz geworden ist, erweist sich heute für einige als Schatztruhe. Händler, die vor einigen Jahren griechische Vermögenswerte gekauft haben, haben Grund zum Feiern, denn sie haben Renditen erzielt, die kein anderer Markt hätte bieten können. Doch wie so oft dürfte sich eine Gelegenheit, die zu schön scheint, um wahr zu sein als eben das herausstellen. Und sie könnte ein Hinweis auf die nächste Phase unserer globalen Krise sein.

Ein Investor, der 2013 deutsche Staatsanleihen gekauft hat, hat inzwischen eine Rendite von 7% erzielt, während der Käufer einer griechischen Staatsanleihe, die auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise des Landes im Jahr 2012 begeben wurde, eine enorme Rendite von 231% erzielt hat. Vor zwei Monaten stieg der Kurs der ersten zehnjährigen Anleihe seit der Rettung Griechenlands im Jahr 2010 an sieben aufeinanderfolgenden Tagen und legte innerhalb von einer Woche um 2,8% zu – eine bessere Performance als jede andere Staatsanleihe weltweit. Diese Anleiherallye hat eine psychologische Sogwirkung entfaltet, die dem Leitindex der Athener Börse ‒ vor dem Hintergrund eines europäischen Anlagemarktes aus dem unaufhaltsam Kapital abgezogen wird ‒ in den letzten Monaten ein Plus von 26% bescherte.

Angesichts dieser beeindruckenden Zahlen ist es ebenso verlockend wie falsch, das Ende der griechischen Krise zu verkünden. Die griechische Anleihe- und Aktienrallye verdeckt eine wachsende Diskrepanz zwischen einer düsteren wirtschaftlichen Realität und einem unhaltbar dynamischen Finanzmarktumfeld. Die hohen Gewinnmargen der Händler spiegeln nicht Griechenlands Erholung wider, sondern den anhaltenden Deflationsdruck und die Zersplitterung in Europa innerhalb eines globalen Umfeldes abnehmender Schuldentragfähigkeit. Die Zahlen aus Griechenland, die für Investoren von nah und fern hochinteressant sind, könnten sich als Vorbote neuer Probleme für die europäische Wirtschaft und vielleicht für die Welt erweisen.

Wie ist es angesichts der gähnenden Kluft zwischen dem nominalen Volkseinkommen Griechenlands und seiner Staatsverschuldung möglich, dass die griechischen Anleihen in die Höhe schnellen? Warum ist die Athener Börse im Aufwind, während die Wirtschaft nach wie vor durch Überbesteuerung beeinträchtigt wird, Banken unter einem Berg von notleidenden Krediten ächzen, die sinkende Arbeitslosigkeit lediglich Auswanderung und einige prekäre Arbeitsverhältnisse reflektiert, die öffentlichen Nettoinvestitionen negativ sind und es an privaten Investitionen in die Produktion von handelbaren Gütern mit hoher Wertschöpfung fehlt?

Ein Grund dafür ist der „Dead-Cat-Bounce“ oder „Hüpfer einer toten Katze“, wie Börsianer eine kurzfristige Erholung nach einem starken, länger andauernden Einbruch nennen. Angesichts der geringen Größe des griechischen Aktienmarktes – die Gesamtkapitalisierung beträgt 52 Milliarden Euro – reichte der bescheidene Kapitalzufluss im Zuge der Anleiherallye aus, um den Anstieg des Index um 26% zu bewirken. Trotz dieses Anstiegs bleibt der griechische Markt jedoch 81% unter dem Niveau von 2009. Was die Anleiherallye selbst betrifft, so verschwindet das Paradoxon schnell, wenn wir uns erinnern, wie die ersten beiden Rettungsaktionen die griechische Staatsverschuldung vom privaten Sektor auf die Schultern der europäischen Steuerzahler verlagert haben.

Da 85% der griechischen Schulden außerhalb der Märkte liegen, Rückzahlungen auf die Zeit nach 2032 verschoben wurden und weitere 30 Milliarden Euro an offiziellen Krediten an die griechische Regierung vergeben werden, damit ihre Rückzahlungen an alle gedeckt sind, können sich Investoren auf den kleinen Teil der griechischen Schulden konzentrieren, der sich noch in privater Hand befindet. Solange die griechische Regierung den europäischen Behörden unterworfen ist, können Händler kein Geld bei Anleihen verlieren, die Griechenland mit Zinsen von über 3% ausgibt, zu einer Zeit, in der sich die Renditen deutscher Bundesanleihen um die Null bewegen.

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Die meisten Kommentatoren sind entschlossen, optimistisch zu bleiben, und verweisen darauf, dass die durchschnittliche griechische Schuldenlaufzeit 26 Jahre beträgt, in deutlichem Kontrast zu sieben Jahren für Italien und Spanien oder zehn Jahren für Portugal, und die griechische Wirtschaft somit die Chance hat, sich richtig zu erholen. Was sie verschweigen, sind die unmöglichen Austeritätsauflagen, die die griechischen Gläubiger an diese Verlängerung knüpften: einen permanenten primären Haushaltsüberschuss (ohne Schuldentilgung) von 2,2-3,5% des BIP bis 2060. Mit anderen Worten müssen griechische Unternehmen weiterhin durchschnittlich 75% ihrer Gewinne (einschließlich Sozialversicherungsbeiträge) an den Staat zahlen, während die Gesamtsteuerbelastung im benachbarten Bulgarien nicht mehr als 22% beträgt.

Kurz gesagt ist Griechenland vom „Ground Zero“ der Eurokrise und dem besten Beispiel für ihr Missmanagement durch die EU-Behörden zu einem perfekten Beispiel dafür geworden, wie finanzielle Überschwänglichkeit auf dem Rücken wirtschaftlichen Elends ausgetragen werden kann. Der beunruhigendste Aspekt dieser Disparität ist, dass gewinnorientierte Händler nicht falsch liegen, wenn sie die Wertpapiere eines untergehenden Landes aufkaufen. Aus ihrer kurzfristigen Perspektive ist es ein unwiderstehliches Spiel – und ihre Gewinnmarge gibt ihnen recht. Doch nur weil Händler mit griechischen Vermögenswerten eine Menge Geld machen, ist es falsch, ja sogar fahrlässig, davon auszugehen, dass sich die zugrunde liegende Realität verbessern würde.

Der Rest der Welt täte gut daran, diese Entkopplung als Symptom eines globalen Problems zu betrachten. Im Juni 2017 begab Argentinien eine Anleihe mit 100-jähriger Laufzeit im Wert von 2,75 Milliarden Dollar, die sich wie geschnitten Brot verkaufte, aufgrund der großen und sehr falschen Erwartungen an die Perspektiven der argentinischen Wirtschaft unter einer neuen neoliberalen Regierung. Während sich diese Geschäfte bereits als töricht erwiesen haben, gibt es eindeutige Beweise dafür, dass die durchschnittlichen Gesamtrenditen für Investoren höher sind, wenn sie die Staatsanleihen von Ländern kaufen, die häufiger als Kreditnehmer ausfallen. Besonders gefährlich ist die Vorliebe der Geldgeber, in Anleihen mit geringer Bonität zu investieren und nicht vorhandene Möglichkeiten herbeizureden jedoch, wenn es im Gegensatz zu Staatsanleihen um Unternehmenskredite geht.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres gingen erstaunliche 40% aller Kredite an hoch verschuldete Unternehmen in den Vereinigten Staaten an die Firmen mit der geringsten Liquidität. Nach Angaben der Federal Reserve stieg diese Form der Kreditvergabe an ohnehin hochverschuldete Unternehmen im Jahr 2018 um 20,1% , während andere Quellen von laxen Standards bei der Kreditvergabe berichten. Kredite werden an Unternehmen mit niedrigem Rating und hoher Verschuldung vergeben, was den sichereren Hochzinsanleihenmarkt als Finanzierungsquelle überschattet. Laut LCD, einer Abteilung von S&P Global Market Intelligence, hat das Volumen des Leveraged-Loan-Marktes inzwischen 1,2 Billionen Dollar überschritten, traditionelle Junk-Bonds überholt und weniger riskante gedeckte Schuldverschreibungen geschwächt.

Griechenland steht an der Spitze dieses Trends und zieht Schönwetter- und Spekulationsgeschäfte an, während geduldige Investitionen in die wirtschaftliche Erholung nirgends in Sicht sind. Nach 2008 wurde Griechenland zum Symbol für das Versagen des globalen Kapitalismus, für ausgewogene Kredit- und Handelsströme zu sorgen. Heute, da das globale Missverhältnis zwischen der wirtschaftlichen Realität und den finanziellen Erträgen wächst, besteht eindeutig die Gefahr, dass das Land erneut zum Vorboten einer neuen Phase der globalen Krise wird. Wo ein Aas ist, sammeln sich die Geier.

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