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Die Zukunft des Transatlantizismus hängt an Europa

BERLIN – Politiker, die nicht wissen, was sie tun sollen, wenn sie mit neuen oder schwierigen Umständen konfrontiert werden, suchen oft in leeren Phrasen Zuflucht. In Bezug auf Europa und seine sich wandelnden Beziehungen zu den USA scheint dies eindeutig der Fall zu sein.

So argumentiert etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel inzwischen, dass die transatlantischen Beziehungen einer „grundlegenden“ Neubewertung bedürfen, und Bundesaußenminister Heiko Maas beharrt darauf, dass ein „dringender Handlungsbedarf“ bestehe. Aber was heißt das? Wo bleiben die konkreten Vorschläge dazu, was ein derartiges Handeln umfassen sollte?

Tatsache ist, dass wir Europäer – insbesondere wir Deutschen – uns zu lange darauf verlassen haben, dass sich die Nachkriegsordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion mehr oder weniger selbst erhalten würde. Schließlich waren die USA die einzig verbleibende Supermacht und zufällig unserer engster Freund. Während wir uns zu Hause um uns selbst kümmerten, würden die USA (mit etwas Hilfe ihrer nuklear bewaffneten französischen und britischen Freunde im UN-Sicherheitsrat) die Verantwortung für die weitere Welt übernehmen.

Doch haben die USA – anders als die meisten Europäer – seit den geopolitischen Erschütterungen der 1990er Jahre tatsächlich über die sich wandelnde Welt nachgedacht. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass sie sich im 21. Jahrhundert stärker mit Asien – namentlich China – würden befassen müssen, der Schwerpunkt würde also weniger auf Europa und der transatlantischen Welt liegen. Während er sich bemühte, Amerikas Engagement im Mittleren Osten und in Europa zu begrenzen, verkündete US-Präsident Barack Obama daher zugleich eine „Hinwendung nach Asien“ die sich inzwischen unter US-Präsident Donald Trump zu einer lose definierten „indopazifischen“ Strategie entwickelt hat.

Nun, da China die Sowjetunion als Amerikas wichtigsten geopolitischen Rivalen abgelöst hat, ist zunehmend von einem neuen Kalten Krieg die Rede, und das nicht nur unter Trumps außenpolitisch eher aggressiv eingestellten republikanischen Verbündeten und Beratern. Allerdings ist Trump mit Sicherheit der erste US-Präsident, der von Europa offen Loyalität und Ausgleichszahlungen verlangt. Seit dreieinhalb Jahren lautet die Botschaft aus den USA, dass, wenn Europa – insbesondere Deutschland – nicht zahle, es nicht auf den Schutz durch die USA gemäß Artikel V des Nordatlantikvertrages zählen könne.

Aus Trumps Sicht ist die Welt ein einfacher Ort, an dem sich immer der jeweils stärkste Akteur durchsetzt. Er verkennt dabei, dass es Amerikas Bündnisse sind, die seine Macht stützen und es von China und Russland unterscheiden. Für Trump sind die Partner und Verbündeten der USA sämtlich bloße potenzielle Erpressungsopfer.

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Es sollte inzwischen offensichtlich sein, dass Europa aufhören muss, wie das Kaninchen auf die Schlange in Richtung USA zu starren. Amerika wird tun, was immer es für am besten hält, und falls Trump im November wiedergewählt wird, wird nicht einmal die NATO mehr sicher sein. Doch selbst wenn sich Trumps mutmaßlicher demokratischer Herausforderer Joe Biden durchsetzt, werden die USA nicht plötzlich wieder in ihre Nachkriegsrolle zurückverfallen. Sie werden, ob mit oder ohne Trump, weniger auf den Atlantik und mehr in Richtung Pazifik schauen. Und in ein paar Jahren werden Amerikaner europäischer Abstammung nicht mehr länger die Mehrheit der US-Bürger stellen.

Darüber hinaus glauben zwei Drittel der Amerikaner schon jetzt, dass ihr Land „stärker als es sollte die Rolle des Weltpolizisten spielt“. Dies legt nahe, dass jede künftige US-Regierung unter Druck geraten wird, die US-Militärpräsenz im Nahen und Mittleren Osten zu verringern. Dies wiederum wird Deutschlands langjährige Bedeutung als Ausgangsbasis für US-Operationen im Mittleren Osten, in Afrika und anderswo weiter verringern.

Unter diesen Umständen muss Europa anfangen, seine Eigeninteressen selbst zu definieren und die (militärischen/wirtschaftlichen/politischen) Mittel klären, mit denen es diese verfolgen wird. Zum Beispiel sollten die Deutschen nicht zulassen, dass die Ansichten des US-Präsidenten ihre internen Debatten über die Verteidigungsausgaben beeinflussen.

Dasselbe gilt für die europäischen Beziehungen zu China. Wie beabsichtigt die Europäische Union, zu verhindern, dass jedes Mitgliedsland seine eigene Chinapolitik verfolgt? Diese Frage zu beantworten – und eine Strategie für den Umgang mit China im Allgemeinen zu entwickeln –, wird viel wichtiger für die transatlantische Beziehung sein als NATO-Beiträge, Truppenreduzierungen oder Handelsfragen.

Zum Glück werden auch die USA angesichts der geopolitischen Dynamik des 21. Jahrhunderts bald erkennen, dass eine isolationistische Politik ein gefährliches Spiel ist. Globale Bedrohungen wie der Klimawandel, die Verbreitung von Atomwaffen und Pandemien lassen sich nur gemeinsam bewältigen, und die Notwendigkeit einer starken transatlantischen Partnerschaft wird, wenn diese Probleme in den Vordergrund rücken, offensichtlich werden. Doch wird eine Wiederaufnahme der Beziehung nur möglich sein, wenn sich Europa in zentralen Fragen einig ist. Eine innerlich gespaltene EU ist für niemanden ein ernstzunehmender Partner.

Für Europa bleibt die transatlantische Beziehung so etwas wie eine Grundposition. Europa entschied vor 75 Jahren, sich an den die Seite der USA zu stellen, und dort wird es bleiben. Es besteht keine Möglichkeit eines „gleichen Abstands“ zu den USA, China und Russland, weil die beiden Letzteren grundlegend andere Vorstellungen von den nicht verhandelbaren Fragen der Regierungsführung haben.

„Der Westen“ ist schließlich kein geografischer Begriff, sondern ein universell übertragbares politisches Projekt, das um die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz, die Redefreiheit, eine unabhängige Presse und andere zentrale liberale Werte herum aufgebaut ist. Ungeachtet von Trump sind Europa und die USA gemeinsam noch immer die führenden Exponenten dieser Ideen.

Die Herausforderung für Europa besteht nun darin, zu zeigen, dass eine Balance zwischen individueller Freiheit und gegenseitiger Verantwortung erreichbar ist. Wie die Anfangsphase der COVID-19-Krise gezeigt hat, ist das leichter gesagt als getan. Doch haben Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron mit ihrem gemeinsamen Vorschlag für einen europäischen Wiederaufbaufonds inzwischen einen Schritt in die richtige Richtung getan.

Die Europäer sollten sich bewusst machen, dass sie, wenn sie davon sprechen, ihre Haltung gegenüber den USA „grundlegend“ zu überdenken, tatsächlich eine Veränderung in ihrer eigenen Selbstwahrnehmung erkennen lassen. Es besteht in der Tat „dringender Handlungsbedarf“. Die Europäer müssen selbstständig und für sich selbst handeln. Die Zeit, wo wir uns zurücklehnen und zulassen konnten, dass US-Flugzeugträger unsere Interessen projizieren, ist vorbei.

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