Highway billboard of Bashar al-Assad in Syria. sarahchats/Flickr

In die Sackgasse mit Assad

PARIS – Vergessen Sie einmal Prinzipien und Moral. Vergessen Sie oder versuchen Sie zumindest jene 250.000 Todesopfer zu vergessen, für die Baschar al-Assad direkt oder indirekt verantwortlich ist, seitdem er beschloss, einen friedlichen Aufstand des syrischen Volkes mit Gewalt niederzuschlagen. Blenden Sie aus, dass Assads Truppen bislang 10 bis 15 Mal mehr tote Zivilisten auf dem Gewissen haben als der Islamische Staat, dessen entsetzliche Tötungsvideos die unsichtbaren Massaker des syrischen Diktators in den Schatten stellten. Aber selbst wenn es Ihnen gelingt, all das aus Ihren Gedanken zu verbannen, ist eine Syrien-Politik, die Assad als „Alternative“ zum Islamischen Staat präsentiert, schlichtweg nicht denkbar.

Schließlich löste Assad die aktuelle Barbarei des Islamischen Staates selbst aus: im Mai 2011 entließ er hunderte islamische Radikale aus dem Gefängnis und sorgte damit für raschen Nachschub an Kämpfern und Anführern der damals entstehenden Gruppe.  Anschließend nahm er systematisch Stellungen gemäßigter Rebellen unter Beschuss, während er die Hochburg des Islamischen Staates in Raqqa ebenso systematisch verschonte. Und später – Mitte 2014 – ermöglichte er es, irakischen Elementen des Islamischen Staates in Ostsyrien Unterschlupf zu finden.

Mit anderen Worten: Assad schuf das Monster, das er mittlerweile vorgibt, zu bekämpfen. Ist das nicht ein bisschen viel für einen potenziellen Verbündeten? Kann eine Zusammenarbeit mit Assad die solide Basis für ein Unterfangen bilden, das als gemeinsame Anstrengung daherkommen soll?

Fest steht, dass Assad im Grunde kein Interesse an einem Sieg hat. Dieser Mann, der sich derzeit als letztes Bollwerk der Zivilisation gegen den Islamischen Staat ausgibt, ist auch der letzte, der diese Organisation beseitigt sehen möchte.

Denn opfert – selbst ein schlechter - Schachspieler absichtlich seine wichtigste Spielfigur? Würden wir jemals unsere Versicherungspolicen zerreißen? Glauben wir wirklich, dass Assad und seine Spießgesellen zu dumm sind, um begriffen zu haben, dass ihr politisches Überleben von dem des Islamischen Staates abhängt und davon, dass sie Wächter jenes Tores bleiben, das wir passieren müssen, um Krieg gegen den Islamischen Staat zu führen?

„Natürlich nicht“, räumen die Verfechter einer Zusammenarbeit mit Assad ein. „Aber versuchen wir es doch mit einem zweistufigen Ansatz. Schlagen wir zuerst den Islamischen Staat nieder und anschließend widmen wir uns Assad.“

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Allerdings beruht auch dieser Ansatz auf der Annahme, Diktatoren seien dümmer als sie es in Wirklichkeit sind. Schlimmer noch: man ignoriert, dass die Politik ihrer eigenen Logik oder zumindest ihrer eigenen Dynamik folgt. Die Zauberlehrlinge, die mit Assad kooperieren wollen, lassen nämlich außer Acht, dass sie – wenn es soweit ist - höchstwahrscheinlich in Schwierigkeiten geraten werden, sich von einem Verbündeten zu distanzieren, der keine Hemmungen haben wird, seinen Anteil am Sieg zu fordern. Die mögliche Folge: der Dschihadismus käme zurück, obwohl wahrscheinlich in anderem Gewand.

„Baschar al-Assad ist der syrische Staat”, sagen diese Menschen. „Und wir dürfen nicht den fatalen Fehler begehen, den Staat zu zerstören.“ Doch dieses Argument ist ebenso wenig stichhaltig. Der Staat ist bereits gescheitert: Assad kontrolliert lediglich ein Fünftel des syrischen Staatsgebiets und die restlichen vier Fünftel werden sich nie wieder freiwillig seiner Schreckensherrschaft aussetzen. Behält Assads Regime die Oberhand, werden die Bürger des Staates weiterhin in Scharen in die Türkei, den Libanon und nach Europa fliehen.

Tatsächlich macht sich Assads Regime derart wenig aus seinem Pseudo-Staat, dass es seine eigenen, außerhalb seines Staatsgebietes gefangenen Soldaten im Stich lässt,  wie dies in in Tabqa in der Nähe von Raqqa geschah. Das baathistische Syrien ist, egal was seine Freunde im Kreml und anderswo sagen, tot und begraben. Und keine militärische Augenwischerei wird es wiederbeleben können.

Doch die vermeintlichen Realisten weigern sich, die Realität zu akzeptieren. Ebenso wie es notwendig war, sich mit Stalin zu verbünden, um Hitler zu schlagen, so ihre Behauptung, sollten wir nicht davor zu zurückschrecken, die Assad-Karte zu spielen, um den Islamischen Staat loszuwerden. Ja, der Dschihadismus ist der Faschismus unserer Tage, infiziert mit Plänen, Ideen und einem Streben nach Reinheit, das mit jenem der Nazis vergleichbar ist. Ich war einer der ersten, der diesen Vergleich vor etwa 20 Jahren anstellte.

Und dennoch ist es absurd, die Macht dieser beiden Phänomene zu vergleichen oder zu behaupten, die Konfrontation mit den Schlächtern von Mosul und Palmyra wäre für die Demokratien eine mit der Nazi-Wehrmacht vergleichbare strategische Herausforderung. Dieser geschichtliche Sprung gelingt nur Menschen, deren politische Verantwortungslosigkeit ebenso stark ausgeprägt ist wie ihre Neigung, schlampige Vergleiche zu ziehen.

Damit wir uns nichts vormachen: der Islamische Staat ist stark. Aber nicht so stark, dass denjenigen, die ihn bekämpfen würden, nur die Politik des geringeren von zwei Übeln bleibt.

Der Westen muss entscheiden, was zu tun ist. Nach den Friedensgesprächen in Wien, die letzte Woche stattfanden und an denen die Vereinigten Staaten, Russland, der Iran, China, Ägypten, die Türkei, Saudi Arabien und andere Golfstaaten sowie Jordanien, der Libanon und wichtige Mitglieder der Europäischen Union teilnahmen, wird diese Frage zunehmend schwierig zu beantworten. Sollen wir die Überbleibsel der Freien Syrischen Armee ausstatten? Sollen wir mit den wenigen verbleibenden alawitischen Führungspersönlichkeiten verhandeln, an deren Händen kein Blut klebt oder mit jenen Mitgliedern des Assad-Clans in Kontakt treten, die sich frühzeitig ins Exil begaben und daher nicht in die Massaker involviert waren?

Vielleicht hat man noch Zeit, einige Elemente des alten Syrien auf neutralem Boden zusammenzubringen. Oder vielleicht bedarf es radikalerer Lösungen – von der Art wie man sie in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg umsetzte.

Diese Wege stehen noch offen, aber sie werden zunehmend enger. Und keiner davon ist abhängig vom politischen Überleben des Baschar al-Assad.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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